Mein fremder Bruder
so angespannt, daß sie hörte, wie die Zigarette knisternd abbrannte.
»Ich bin müde«, sagte er, machte aber keine Anstalten aufzustehen.
»War der Rückweg lang?« fragte sie und merkte, daß sie nicht mal wußte, wie lang er gebraucht hatte, um nach Hause zu kommen.
»Ja.«
»Bist du gelaufen?«
»Die meiste Zeit.«
Er trat die Zigarette mit dem Hacken aus, hob die Kippe auf und schleuderte sie von sich. Beide sahen ihr hinterher, wie sie im Schwarz des Gartens verschwand.
»Ich bin müde«, wiederholte er, und in diesem Augenblick wurde ihr klar, daß er ihr gar nichts erzählen würde, daß er alles für sich behalten und ihr im Laufe der Jahre nur winzige Bröckchen zuwerfen würde, und in der Zwischenzeit würde der Krieg schweigend und zornig zwischen ihnen stehen.
Und dann kam Piya, und alles wurde anders.
Als Maya sie vor dem Tor fand, hatte sie schon den ganzen Morgen über dort gestanden, sich aber nicht getraut zu klingeln. Maya war auf dem Weg zur Nachmittagsschicht im Rehabilitationszentrum und trug eine schicke Kombination aus Churidar und Kurta. Sogar einen Hauch Lippenstift hatte sie aufgelegt.
»Suchen Sie jemanden?« fragte Maya und betrachtete die abgelatschten Sandalen der jungen Frau, den herunterhängenden, dünnen Sari, dessen Ende sie sich eng um den Kopf geschlungen hatte. Die Frau sagte nichts, sondern streckte Maya nur einen Zettel entgegen. Auf diesem stand ihre Adresse in Sohails Schrift, dazu die Worte: »Inschallah, so Gott will, werden wir uns wiedersehen.«
Sohail war gerade im Garten und rauchte. Er warf die Zigarette weg, als er Maya sah.
»Da ist jemand, der sucht nach dir.«
»Wer denn?«
»Keine Ahnung. Ein Mädchen. Sie will mir nichts sagen.«
Er rannte ans Tor. »Piya?«
Bei seinem Anblick schien die Frau größer zu werden, und einen Augenblick später lagen sie sich schon in den Armen. Die junge Frau wischte sich das Gesicht am Sari trocken. »Sie haben mich rausgeworfen.« Sie weinte. »Ich gehöre da nicht mehr hin.«
»Es war richtig, daß du hergekommen bist«, sagte er.
Maya stand sprachlos mit der Hand auf dem Türriegel da und fühlte sich schuldig, weil der Anblick der Umarmung sie eifersüchtig machte. Dann bewegte sich die Frau, und die Kopfbedeckung rutschte herunter. Maya hielt die Luft an. Sie hatte nur Stoppeln auf dem Kopf; ihre Haare waren offensichtlich erst wenige Wochen zuvor geschoren worden. Sohail führte Piya hinein, wobei er Maya einen schnellen Blick zuwarf, der zu bedeuten schien: Bitte frag nicht, bitte sag dieses eine Mal einfach nichts.
Als Maya abends von der Arbeit zurückkehrte, saß Piya im Wohnzimmer. Rehana streichelte ihr den Rücken. »Piya wohnt von jetzt an bei uns.«
Piya nickte Maya zu, sie nickte zurück. Niemand verlor ein Wort darüber, warum sie da war. Rehana und Maya vermuteten, daß Sohail der jungen Frau im Krieg begegnet war, sie in Schwierigkeiten steckte und von ihrer Familie verstoßen worden war – und wie Maya genau wußte, gab es nur eine Art von Schwierigkeit, die sie veranlaßt haben konnte, an ihrer Türschwelle aufzutauchen.
Frauen wie sie sah Maya jeden Tag im Rehabilitationszentrum; seit Wochen kamen sie scharenweise in die Stadt. Manche waren in den Dörfern vor den Augen ihrer Männer und Väter vergewaltigt worden; andere waren entführt und den ganzen Krieg über in den Armeebaracken gefangengehalten worden. Maya hatte die Aufgabe, diesen Frauen zu sagen, daß ihr Leben wieder zur Normalität zurückfinden würde, daß sie nach Hause gehen und von ihren Familien als Revolutionsheldinnen wieder aufgenommen würden. Jeden Tag sagte sie ihnen das ins Gesicht, obwohl sie wußte, daß es eine Lüge war, und die Frauen hörten schweigend zu, hielten den Blick starr in den Schoß gerichtet und hofften, der fromme Wunsch würde Wirklichkeit werden.
Manche wußten, daß es eine Lüge war. Die neue Regierung erlaubte einigen der feindlichen Soldaten, nach Pakistan heimzukehren, als großzügige Siegergeste, und eine ganze Reihe von Frauen wollte mitgehen. Eines Morgens wurde Maya von einem Anruf aus dem Zentrum geweckt. Sie sind am Flughafen, sie versuchen, das Land zu verlassen.
Der Flughafen war das reinste Chaos, Menschenmassen versuchten, in die junge Republik ein- oder aus ihr auszureisen, und drängelten sich in jeder Schlange nach vorn, die sich bildete, sobald irgendein Schalter besetzt wurde. Doch die wie Bräute aufgeputzten Frauen waren nicht zu übersehen, die im Sonnenlicht
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