Mein fremder Bruder
blinkenden Nasenstecker, Handgelenke schwer mit Armreifen behängt, die bei jeder Bewegung musikalisch klimperten. Manche trugen Blumen im Haar, und ein oder zwei hatten sich sogar die Mühe gemacht, die Hände mit Henna zu bemalen.
Ein Soldat nach dem anderen wurde von seinen Fesseln befreit. Sie standen in Grüppchen zusammen und flüsterten. Manchmal grinste einer von ihnen.
Eine freiwillige Helferin des Zentrums erschien, einfach gekleidet und mit offenen Haaren, und beschwor die abreisenden Frauen.
»Das könnt ihr doch nicht machen«, sagte sie, »ihr habt nicht mal eure Familien benachrichtigt.«
Eine trat vor. »Unsere Familien wollen uns nicht. Wo sollen wir hin? Was sollen wir essen?«
»Die staatliche Stelle für die Wiedereingliederung der Frauen wird Vorkehrungen für euch treffen.«
»Was für Vorkehrungen? Könnt ihr uns unsere Familien wiedergeben? Nehmt ihr uns bei euch zu Hause auf?«
»Wir werden euch wiedereingliedern. Habt ihr denn nicht gehört, was Sheikh Mujib gesagt hat? Er hat gesagt, daß ihr Heldinnen seid, Heldinnen des Krieges.«
Eine andere Frau meldete sich zu Wort. »Wir wollen keine Heldinnen sein. Wir schämen uns. Wir wollen unsere Schande hinter uns lassen und noch mal von vorn anfangen.«
Maya unterstützte ihre Kollegin. »Bitte verlaßt uns jetzt nicht.«
Im Gänsemarsch betraten die Soldaten das Flugzeug. Wie groß sie waren, wie stolz sie den Kopf reckten.
Die Bräute nahmen ihre Tiffindosen in die Hand, ihre kleinen Stoffbündel. Sie rafften den Saum ihrer Saris, als sie die Gangway hochgingen und ins Flugzeug einstiegen. Und dann waren sie verschwunden; die Einstiegsluke ging zu, die Turbinen liefen an, und die freiwilligen Helferinnen blieben auf der schwarzblauen Startbahn zurück.
Es war Zeit zu vergeben, wurde ihnen gesagt. Zu vergeben und zu vergessen. Zu verzeihen und aus der Erinnerung zu tilgen. Auszulöschen und weiterzumachen. Das Land mußte ein Staat werden. Vorher hatte es ihre Brüder gebraucht, die in den Kampf ziehen mußten, es hatte ihre eingeschmolzenen Kochtöpfe und Schmuckstücke gebraucht, und jetzt brauchte es ihr Vergessen.
Das war ja wohl das mindeste, was sie tun konnten.
Die Kriegsgefangenen wurden freigelassen, wieder in ihreUniformen gesteckt und nach Pakistan zurückgeschickt. Sie brauchten sich für nichts zu entschuldigen. Von der Hand der Vergebung gesalbt, würden sie ohne Scham alt werden.
Maya wußte genau, was Piya zugestoßen war. Eine Erklärung war überflüssig.
Piya schlief den ganzen Tag, merkte nichts davon, wie die anderen um sie herum arbeiteten, Mahlzeiten aßen, Moskitonetze aufhängten und abhängten, den Boden neben ihren Füßen kehrten. Mitten in der Nacht wachte Maya manchmal auf, und Piya war verschwunden, aber sie war nur im Garten oder hockte draußen auf der Veranda und blickte in die Ferne. Sie machte keinen Versuch, sich Maya anzuvertrauen, und Maya drang auch nicht in sie. Wenn Piya etwas brauchte, wandte sie sich an Rehana – Maya sah ein paarmal, wie die beiden in der Küche miteinander flüsterten. Piya fing an, in der Küche mitzuhelfen, Gewürze in dem rauhen Steinmörser zu mahlen, die Rotis zum Frühstück auszurollen. Davon abgesehen war es, als ob sie gar nicht richtig da und nur halb anwesend wäre. Manchmal vergaß Maya sie richtiggehend – sie hatte auch viel zu tun, mußte sich in dem ungewohnten Frieden zurechtfinden, hatte den Bruder wieder zu Hause und wurde ermutigt, jetzt, wo alles vorbei war, ihr neues Land nach Leibeskräften zu genießen.
Zwei Wochen nach Piyas Ankunft sah Maya sie mit Sohail zusammen im Garten. Es war früher Abend, und die Dunkelheit würde nicht mehr lange auf sich warten lassen. Sie beobachtete die zwei von der Veranda aus. Wenn sie aufgeblickt hätten, hätten sie Maya bemerkt, aber beide hielten den Blick gesenkt und starrten auf den Boden. Piya rieb sich die Oberarme, und Sohail bot ihr seinen Schal an, den er ihr lose um die Schultern legte. Sie hatten jetzt fast gleich lange Haare, und von weitem wirkten sie wie Brüder, zwei Männer, die geheime Männerdinge miteinander besprachen. Es wurde dämmrig; Piya blickte auf, bemerkte, daß Maya zu ihnen herüberschaute, und stieß Sohail an. Beide winkten.
Maya ging zögernd auf sie zu, weil ihr klar war, daß sie etwas unterbrochen hatte.
»Komm«, sagte Sohail, »setz dich.«
Sie ging neben ihnen auf der Jutematte in die Hocke. Beide rückten ein wenig zur Seite, um Platz zu machen, aber die Matte
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