Mein fremder Bruder
gegenüber benommen. Die ganze Party war ein Fehler gewesen – es war ein Fehler gewesen zu glauben, daß sie einfach nach Hause kommen könnte, und alles wäre wieder wie vorher.
*
Maya versuchte, die Party zu vergessen. Sie beschäftigte sich mit dem Kommen und Gehen oben. Die untersetzte Frau hieß Khadija und war die Tochter eines reichen Bauern aus Sylhet. Sie übernahm Silvis Predigtamt; zweimal am Tag kamen Horden von Frauen und drängelten sich oben in den Räumen. Es hieß, sogar Gruppen aus Italien und Kuba wären dabei.
Jeden Nachmittag um vier Uhr klingelte im Bungalow das Telefon, und eine junge Frau von oben saß schon da und wartete. Sie kam immer ein paar Minuten vorher, zog die Schuhe ausund krallte sich mit den Zehen nervös an der Türschwelle fest, an der sie sich herumdrückte.
Wenn das Telefon dann endlich klingelte, wäre sie am liebsten sofort hingesprungen, aber sie wartete immer ab, daß jemand aus der Küche kam und dranging, und wenn Maya oder Rehana ihr dann den Hörer hinstreckten, nahm sie ihn mit beiden Händen in Empfang. Dann ging sie damit in die Hocke und flüsterte hinein. Die Gespräche dauerten nur wenige Minuten, bis sie aufhängte und zurück nach oben huschte.
Maya sammelte diese Eindrücke. Ein Mädchen, das ins Telefon flüsterte, ein Junge, der Wasser in einem Eimer schleppte.
Sie gruben das leere Fleckchen an der Westseite des Gartens um. Es war die perfekte Stelle, weil sie dem Südwind ausgesetzt, aber durch die hoch darüber aufragende Kokospalme vor der Sonne geschützt war. Ammu beugte sich über das Loch, das Maya ausgehoben hatte, zog den Jutesack vom Ballen und fuhr mit den Fingern über die zarten Wurzeln des Bäumchens. Sie flüsterte ein Gebet und blies langsam ihren Atem auf den Baum. Mögest du lange Früchte tragen, sagte sie. Maya half ihr, das Loch im Boden wieder zu schließen, und beide gossen mehrere Becher Wasser auf den Hügel.
»Ma«, sagte Maya, »ich glaube, Sufia beklaut mich.«
Ammu fuhr herum. »Wie kommst du denn auf die Idee?«
»In meinem Geldbeutel fehlen ein paar Scheine.«
Ammu legte den Finger an die Lippen. »Psst. Nicht daß sie aus der Küche kommt und dich hört!«
»Wenn sie stiehlt, dann brauche ich ja wohl nicht zu flüstern.«
»Sie ist jetzt seit sechs Jahren bei mir und hat sich noch nie auch nur ein Stück Kuchen genommen.«
»Tja, vielleicht hat sie was gegen mich.«
»Jetzt sei doch nicht albern. Guck lieber noch mal nach. Vielleicht hast du dich verzählt.«
Ammu schien sich absolut sicher zu sein. »Na gut. Kann ja sein.«
Maya entdeckte im Schuppen eine ihrer alten medizinischen Fachzeitschriften, ein Lancet aus dem Jahr 1960 – sie erinnerte sich, wie sie das Heft nach dem Krieg an einem Stand mit antiquarischen Büchern in Nilkhet entdeckt hatte. »Häufige Ursachen für Augenverletzungen bei Kindern«, las sie. Auf einmal hörte sie ein Handgemenge und die Stimme ihrer Mutter, die sehr ernst sagte: »Das ist nicht das erste Mal, Freundchen.« Maya klappte die Zeitschrift zu und schlich auf Zehenspitzen zur Küche. Ein lautes Krachen. Maya sah Ammu mit erhobener Hand vor Zaid stehen.
Ammu drehte sich um und bemerkte sie. »Geh weg, Maya.« Zaid hielt einen Teller in der Hand; vor seinen Füßen lagen die Scherben eines weiteren. Er hielt den Kopf gesenkt und wollte Maya nicht ansehen. »Maya, ich sagte: Geh bitte, ich hab das hier im Griff.«
Maya ging hinaus. Später lief Ammu in Plastikschlappen auf der Veranda auf und ab; ihre Schritte klatschten wie Ohrfeigen.
»Er war es«, sagte Ammu. »Er hat dein Geld gemopst.« Sie hielt Maya ein paar Scheine hin. »Hier, nimm.« Ammus Hand zitterte, und an ihrem Haaransatz stand eine Reihe kleiner Schweißperlen.
»Ich bitte dich, Ma, es ist doch nicht wichtig.«
»Er stiehlt, er lügt! Ich weiß nicht, was ich mit ihm machen soll.«
Maya dachte an das verdächtig neue Ludo-Brett. »Er hat gerade seine Mutter verloren und muß den Schock irgendwie verarbeiten.«
Ammu schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht.«
»Hast du ihn geschlagen?«
Ammu schüttelte den Kopf. »Er ist sehr jähzornig. Vor ein paar Monaten hat er die Gardine angezündet. Ich dachte, das ganze Haus würde abbrennen.«
In der Woche danach rollte Rehana Rotis aus. Maya und Zaid hockten auf niedrigen Schemeln und warteten, bis das Fladenbrot gebraten war und heiß an sie weitergereicht wurde. Auf der Mauer vor dem Küchenfenster hüpfte eine Krähe seitwärts.
»Warum hat
Weitere Kostenlose Bücher