Mein fremder Bruder
»Ich habe dieses Gespräch schon mehrmals mit deinem Bruder geführt, Maya.«
»Aber er ist doch nie da, er merkt das gar nicht.«
»Das siehst du falsch. Du meinst, Zaid könnte tun und lassen, was er will. Aber er wird jede Minute mit Adleraugen bewacht, von oben.«
»Wenn Sohail es herausbekommt, sage ich, daß es alles meine Idee war.«
»Er wird es trotzdem an dem Kleinen auslassen.«
Maya winkte ab. »Ach was. Ich lass’ es mir nicht verbieten, auf gar keinen Fall.« Sie würde eine Möglichkeit finden, Zaid auf die Schule zu schicken.
Ende März, als die kühlen Abende der staubschweren Hitze wichen, erwischte sie ihn mit der Hand tief in ihrer Handtasche. Er wirkte erstaunt, aber er stand nur da und starrte seine eigene Hand an, als könnte die ihm verraten, was er sagen sollte.
Sie machte ein paar schnelle Schritte auf ihn zu und riß ihm die Tasche weg. Schon lag er auf den Knien, seine Haare strichen über ihre Füße, als er schluchzend hervorbrachte: »Es tut mir leid, das wollte ich nicht.«
Sie kniete sich hin und zog ihn an den Achseln hoch, bis sie einander in die Augen sahen.
»Ich bin kein Dieb«, sagte er und schüttelte den Kopf.
Sie glaubte ihm. »Dann verhalt dich auch nicht so, als ob du einer wärst.« Ein erneuter Tränenguß rann ihm übers Gesicht, als sie ihn aufs Sofa setzte. »Brauchst du Geld?« fragte sie.
»Nein«, antwortete er. Dann: »Doch.«
Sie versuchte, ihm etwas Geld in die Hand zu drücken, aber er zitterte am ganzen Körper und konnte es nicht annehmen. »Bitte sag’s nicht Dadu«, bettelte er, »bitte bitte bitte.«
Sie dachte daran, was sein Vater dazu sagen würde. Lügen, Schummeln beim Spielen, der Tante Geld stehlen. Sie wollte ihm den Unterschied zwischen richtig und falsch beibringen. Aber was wäre dieser kleine Knirps, wenn er nicht so tun würde, als könnte er Französisch sprechen? Gott sieht alles, würde sein Vater zu ihm sagen, aber seine Mutter brachte das auch nicht wieder zurück.
Wenn sie von nun an bemerkte, daß Geldscheine aus ihrer Handtasche fehlten, ging sie davon aus, daß Zaid sich das Geld genommen hatte. Es machte ihr nichts aus; sie war sogar ein bißchen stolz auf ihn. Sie stellte sich vor, daß er eine Frucht oder ein gekochtes Ei in der Hand hielt und seinen Hunger damit stillte, daß er ein bißchen Glück verspürte, ihretwegen, weil sie weggeguckt hatte.
1972
März
Sohail kam verändert aus dem Krieg zurück. Maya und Ammu machten Bemerkungen, wie dünn er geworden war. Sie meinten die innere Entfernung zwischen ihnen, redeten aber über sein Aussehen. Ihnen wurde schnell klar, daß er sich nach innen gekehrt hatte – er redete nicht mehr viel, und wenn, dann ermüdend übergenau. Er badete zweimal, manchmal dreimal am Tag. Er bügelte seine Hemden selbst, besonders eines, ein rotblau kariertes, das er morgens anzog, zum Mittagessen ablegte und am Abend wieder trug. In jenen ersten Wochen wartete Maya jeden Abend darauf, daß er ihr vom Krieg erzählen würde. Sie hoffte, daß er mit seiner Geschichte beginnen würde, sobald Ammu gute Nacht gewünscht, die Petroleumlampe mitgenommen und ihnen gesagt hatte, sie sollten nicht zu lange aufbleiben.
»Und …«, versuchte sie eines Abends das Gespräch in Gang zu bringen.
Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Hemdtasche. »Stört’s dich, wenn ich rauche?« fragte er.
»Nein, natürlich nicht. Seit wann fragst du mich um Erlaubnis?«
»Ich weiß nicht. Wirst du mir nicht gleich erzählen, daß das eine schlechte Angewohnheit ist?«
»Revolutionäre brauchen sich nicht an Konventionen zu halten. Wußtest du das noch nicht?«
»Du meinst, an mir sind so viele Kugeln vorbeigeflogen, daß ich jetzt immun bin?«
»Genau. Dir kann nichts mehr was anhaben.«
»Gut«, sagte er und inhalierte tief. »Mir reicht’s nämlich, Befehle anderer Leute zu befolgen.«
Und wieder hoffte sie, daß er sich ihr gegenüber öffnen würde, ihr alles, von Anfang bis Ende, vom Krieg bis zum Frieden, erzählen würde, damit es am Ende den Anschein hätte, als wäre sie dabeigewesen, die Entfernung zwischen ihnen überbrückt und vergessen wäre. Auch ihre eigene Rückkehr war nicht unkompliziert gewesen. Auch sie hatte Dinge auf dem Herzen, die sie ihm erzählen wollte, und sie zu erzählen würde bedeuten, daß sie abgeschlossen waren und man die neun Monate irgendwohin stecken konnte, irgendwohin, weit weg, wo sie nicht mehr störten. Daß der Krieg vorbei war.
Doch er rauchte nur,
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