Mein fremder Bruder
weil ihr urplötzlich klargeworden ist, daß die Religion mit ihrem offenen Duft und ihren wolkenlosen Strecken der Ewigkeit möglicherweise in der Tat das ist, was er behauptet, und weil diese Sehnsucht sie genauso quält, beschließt sie in diesem Augenblick, daß es nicht sein darf. Niemals wird sie jemand sein, der unter der Macht eines Schicksalsschlages zusammenbricht und sein Leben davon bestimmen läßt.
Und auch Sohail wird das nicht tun. Sie wird es nicht zulassen. Sie glaubt – oh, wie kann sie nur so dumm sein, so arrogant –, sie glaubt, daß sie in dieser Frage etwas zu sagen hat. Sie glaubt, daß sie seine Verwandlung verhindern kann. Sie glaubt, daß ihr Wille stärker ist als der Sturm in ihrem Herzen und der Sturm im Herzen ihres Bruders.
Er kommt zu ihr. »Ich habe gebetet.«
»Wofür?« Sie liest den Observer .
»Nicht für etwas Bestimmtes. Ich bete.«
»Ich bitte dich, Bhaiya«, sagt sie, »fang mir bloß nicht mit diesem ganzen religiösen Humbug an, sonst erkennen wir dicham Ende nicht wieder.« Sie wendet sich wieder der Zeitung zu und schlägt die Seite mit den Kleinanzeigen auf.
»Aber genau das bedeutet Gebet. Daß man alle anderen Gedanken und Interessen losläßt und meditiert.«
Sie sieht ihn an, und er merkt, daß sie nach dem Witz sucht.
»Ich meine das ganz ernst«, sagt er, womit er die Frage beantwortet, die sie vor lauter Verblüffung nicht stellen kann. Er zögert und wägt ab, bevor er weiterspricht. Draußen auf der Straße ist das Geschrei eines Mannes zu hören, der auf etwas schlägt, das wie ein Kochtopf klingt. »Allah, Allah, Allah. Almosen für die Armen, Almosen für die Armen.«
»Es spielt keine Rolle, was uns zu Gott bringt. Es zählt nur, daß wir zu Gott finden.«
»Hast du das von irgendeinem Mullah?«
»Nein, Maya, das ist die Wahrheit.«
»Es hat also nichts mit Piya oder mit dem Krieg zu tun? Ist sonst noch etwas passiert? Hast du etwas Schlimmes getan?«
Sie ist nah dran an der Wahrheit, zu nah. »Ich hab’s dir doch gesagt, es spielt keine Rolle.«
»Natürlich spielt es eine Rolle. Wie soll ich das Heilmittel akzeptieren, wenn ich nicht weiß, worin die Krankheit besteht?«
»Du hältst mich also für krank?«
Die Stimme des Bettlers wird lauter. »Gott vergibt euch«, schreit er. »Gott vergibt euch.«
Das Fenster hinter Maya ist vom goldenen Schein des Morgenlichts erleuchtet, das sich auf ihren Rücken ergießt und ihm in die Augen fällt. Ihr Gesicht liegt im Dunkeln, nur den Strahlenkranz ihrer Haare kann er sehen.
»Ich habe einiges darüber gelesen«, sagt sie. »Es wird Kriegsneurose genannt.«
Als er antwortet, wird ein Anklang von Zorn in seiner Stimme hörbar. »Du hörst mir nicht zu. Ich bin nicht krank. Es kann ja sein, daß es nach dem Krieg immer schwierig ist.«
»Und ich will doch nur sagen, daß das nur eine Reaktion darauf ist.«
»Aber selbst wenn dem so wäre und es mit dem Krieg zusammenhängt, kann ich trotzdem nur dankbar sein.«
Das wiederum macht Maya wütend. »Aber du hast ja wohl nicht vergessen, was sie uns im Namen Gottes angetan haben?«
»Nur weil der Name des Herrn für schreckliche Dinge mißbraucht wurde, macht ihn das noch lange nicht schlecht. Das ist der Irrtum, dem ich verfallen war.«
»Irrtum? Du meinst also, es war alles ein Irrtum?«
Sohail blickt zur Seite, weil er nicht weiß, wie er darauf reagieren soll. Er wünscht sich ja nicht, es hätte keinen Krieg gegeben oder er hätte sich nicht den Kämpfern angeschlossen, das nicht. Aber sein Leben ist nicht für den Krieg, sondern für etwas anderes bestimmt. Wie soll er ihr das erklären? Daß es einen Grund gibt, warum er überlebt hat und so viele andere gestorben sind. Er wünschte, sie würde es verstehen, würde ein bißchen verstehen, wie es war, wünschte, das Herz wäre ihr genauso schwer wie ihm, ein Herz, das sich auf irgendeine Sicherheit stützen muß, einen Weg.
Maya trinkt ihren Tee mit einem Riesenschluck aus und will den Frühstückstisch verlassen. »Ich fass’ es nicht«, sagt sie, »daß du nach alldem so was machst.«
In diesem Augenblick kommt Rehana dazu, in der Hand eine Schüssel Grieß-Halwa, das sie auf dem Herd wieder aufgewärmt hat. Sohail zeigt auf das Fenster hinter Maya.
»Da draußen ist jemand«, sagt er.
Sie sehen hinaus. Der Oberkörper des Mannes ist nackt, nur die langen, raffiniert geknoteten Haare fallen ihm bis über die Schultern. Er klopft ans Fenster. »Gott vergibt euch«, sagt er.
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