Mein fremder Bruder
»Gott ist voller Gnade.«
Sie starren einander einen Augenblick an, dann sagt Maya: »Und, was sagt dir dein Buch, was du mit dem Mann da draußen tun sollst, Bhaiya?«
Sohail fischt einen zusammengefalteten Geldschein aus der Tasche. Der Mann hält die Hände wie eine Schale, als das Fenster einen Spaltbreit aufgeht und der Geldschein durchgesteckt wird.
»Das war’s? Mehr tust du nicht? Du willst nicht wissen, warum dieser Mann betteln muß?«
»Frag ihn doch selbst.«
»Ich tu nicht so, als ob ich heilig wäre.«
Sohail haut mit der Faust auf den Tisch. »An mir ist nichts Heiliges, überhaupt nichts. Nur habe ich eben genug Demut, um das zuzugeben. Es gibt etwas Höheres als uns.«
»Aber jetzt guck dir doch an, was dein höheres Wesen uns beschert hat! Krieg und einen Bettler, der an die Scheibe klopft.«
»Maya«, ermahnt Rehana sie, »das reicht jetzt.«
Der Mann hebt die Hand zum Dank an die Stirn, dann wendet er sich ab und schlüpft zum offenstehenden Tor hinaus. Sohail stürmt aus der Küche und schließt sich türenknallend in seinem Zimmer ein.
Maya dreht sich zu ihrer Mutter um. »Hast du das gehört? Als nächstes verwandelt er unser Haus in eine Moschee!«
»Warum bist du nur immer so intolerant, Kind?« Sie schmiegt ihr Gesicht an das ihrer Tochter und flüstert ihr versöhnlich zu: »Er betet, und freitags geht er in die Moschee. Davor braucht man doch keine Angst zu haben. Es ist nur der Glaube.«
Rehana sollte recht behalten – anfangs zumindest. Sohail war wieder fast der alte, lächelte beim Essen, pfiff leise vor sich hin. Er besuchte Vorlesungen an der Universität, auch wenn er danach nicht auf dem Campus blieb oder an den Zusammenkünften der Studentenvertretung teilnahm. Hin und wieder sah man ihn mit seinen Freunden beim Cricketspielen auf dem Abahani Field. In jenem zweiten Sommer nach dem Krieg, als die Verfassung geschrieben und die Folgen des Zyklons überstanden waren, sagte Rehana zu Maya, sie als Mutter habe das richtige Gespür gehabt und ihr Sohn habe sich nur ganz wenig verändert. Er hatte sich noch nicht einmal einen Bart wachsen lassen.
Schlimmere Ereignisse warfen ihre Schatten. Sie hörten, daß der junge Hussain, der ein paar Jahre jünger als Sohail war, ins Wasser gegangen sei. Und der Nachbarssohn Shahabuddin hatte seine schwangere Frau verprügelt, weil er überzeugt war, daß sie ein Dämonenkind unter dem Herzen trug.
Aber die meisten jungen Leute waren so ernsthaft und folgsam wie eh und je. Sie besuchten ihren Unterricht; sie heirateten und bekamen Kinder und machten ihren Eltern jeden Abend eine warme Milch. Sie schoben ihre Erinnerungen beiseite, so gut sie konnten, und wischten sich das Blut von den Händen und vom Saum ihrer Saris. Und Rehana schlief ruhig, weil sie sicher war, daß ihr Sohn es mit seinem Glauben nicht übertreiben würde. Immerhin war sie diejenige gewesen, die ihm das Buch gegeben hatte.
1984
August
Krebs. Jedesmal wenn Dr. Sattar das Wort aussprach, verschluckte er es, bis er schließlich nur noch von »der Krankheit« oder »dem K« sprach. Der operative Eingriff war nur der Anfang gewesen. Rehana brauchte Chemotherapie, mächtige Gifte, um den Krebs abzutöten. Doch auch der Mensch selbst konnte dabei auf der Strecke bleiben. Es war eine unsichere Wissenschaft, bei der die Behandlung oft schlimmer als die Krankheit war. Maya hörte sich das panikerfüllt an. Nie hatte sie ernsthaft die Möglichkeit erwogen, daß sie eines Tages ohne ihre Mutter würde leben müssen. Der Tod war ihnen bereits zugestoßen: Ihr Vater war gestorben, noch bevor Maya wußte, daß der Tod länger dauert als der Schlaf. Später kam der Tod zu den Patienten, die sie behandelte. Jeden Tag versuchte sie, ihm mit eigener Hand Einhalt zu gebieten, Ruhr und Malaria und Schlangenbiß aufzuhalten. Der Tod hatte auch Nazia gestreift; ihre Beine waren voller Narben, aber sie hatte überleben dürfen. Nie hatte Maya sich ernsthaft vorgestellt, daß der Tod ihr noch einmal etwas wegnehmen würde, nicht ernstlich.
In diesem Jahr war der Regen überall. In Dhaka standen alle Rinnsteine unter Wasser, und die Flüsse sprengten ihre Betten, der Padma und der Jamuna verschluckten Häuser und Rinder und den jungen Reis. Maya brachte Ammu aus dem Krankenhaus nach Hause und lief auf der Veranda auf und ab. Nachts weinte sie in ihre Armbeuge. Einmal erschien Sufia in ihrem Schlafzimmer, hielt die Petroleumlampe hoch und nickte nur, nickte, ohne etwas zu sagen.
Das
Weitere Kostenlose Bücher