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Mein fremder Bruder

Mein fremder Bruder

Titel: Mein fremder Bruder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tahmima Anam
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meisten Angst hat er vor dem Sprechen. Ständig sieht Maya ihn gierig an und hungert nach den kleinsten Kleinigkeiten. Gestern hat er ihr etwas über das Essen im Lager der Untergrundkämpfer erzählt, wie es auf seiner Zunge tanzte, obwohl es nur ein bißchen Dal Bhat war. Das Essen der Freiheit. Gierig schluckt sie die Geschichte, und schon will sie mehr. Wie unersättlich sie ist. Er will, daß sie schweigt, damit er dem Brüllen in seinem Kopf lauschen kann. Wenn sie dieses Brüllen hören könnte, denkt er, das Brüllen des Todes, würde sie ihn vielleicht verstehen. Aber sie weigert sich, auch nur einmal lange genug den Mund zu halten. Sie blickt ihm suchend ins Gesicht, und schon fängt sie wieder an zu erzählen, wer jetzt gerade aus dem Krieg zurückgekommen ist, wer einen Sohn, wer einen Bruder verloren hat. Anderen Leuten ist Schlimmeres zugestoßen.
    Ich habe gemordet. Würde er seiner Schwester vom Krieg erzählen, würde er ihr das sagen müssen. Sie will heldenhafte Geschichten hören. Sie will hören, daß er Bomben unter Brücken angebracht hat und gerade noch wegkam, bevor die brennende Zündschnur die Ladung zum Explodieren gebracht hat, und daß die zerstörten Brücken der pakistanischen Armee den Weg abgeschnitten haben und den Einwohnern des nördlichen Tangail oder Kushtia oder Bogra das Leben gerettet haben.
    Doch eine solche Geschichte hat er nicht zu erzählen. Sie wird immer wütender über sein Schweigen, und selbst nachdem seine Mutter die Morgen auf dem Dach längst akzeptiert hat, folgt Maya ihm mit den Augen und schweigt ihn vorwurfsvoll an. Schweigen um Schweigen. Wenn er sie nach ihrer Arbeit im Rehabilitationszentrum für Frauen fragt, fährt sie ihnan: Glaubst du etwa, Frauen sind nicht genauso Kriegsopfer wie Männer?
    Er denkt an all die Menschen, die gestorben sind – die feindlichen Soldaten, und die Leute, die er nicht gerettet hat, und sein Freund Aref und all die jungen Männer, die in den Krieg gezogen und gestorben sind. Jeden Tag denkt er an sie. Wie egoistisch von ihr, ein Stück davon abhaben zu wollen.
    Ammu ist nicht gierig, aber sie macht sich Sorgen um ihn, steigt die Leiter halb hoch und ruft: Es ist schrecklich heiß da oben, Sohail, willst du nicht herunterkommen und etwas trinken?
    Auf dem Dach hat er ein paar Dinge zusammengetragen. Da ist ein Zierkamm, den Piya vergessen hat, ein Oberhemd, das seinem Freund Aref gehört hat, der im letzten Sommer von der Armee erschossen worden ist. Und ein Foto seines Vaters vor dem Vauxhall. Es ist kein hübsches Foto – sein Vater war nicht hübsch, aber er hatte zuversichtlich in die Zukunft geblickt und das für ihn vorgesehene Leben gelebt. Und der Koran, von Ammu.

    Zu euch ist von Gott ein Licht und ein klares Buch gekommen.
    Mit diesem Buch leitet Gott diejenigen auf die Wege des Heils, die sich um Sein Wohlgefallen bemühen.
    Er führt sie mit Seiner Ermächtigung aus der Finsternis ans Licht und bringt sie auf den geraden Weg.

    Das Buch glaubt daran, daß er gut ist. Er beginnt darin zu lesen.

    Eines Tages kommt er zu Maya und versucht, ihr davon zu erzählen. Er sagt, es sei das Schönste, was ihm in seinem ganzen Leben passiert ist. Er habe etwas gefunden, etwas, das alles erklärt. Will sie nicht wissen, was das ist? Ist sie gar nicht neugierig? Er wirkt blaß, und die Haut spannt sich über seinem Gesicht, und sie sieht, daß der Tod in ihm eine Wohnung gefunden hat, der Tod, dem er im Krieg so nah gekommen ist, er und der Tod in einem engen Korridor. Jetzt ist es wie ein Geschwür, dasnicht heilen will, und er drückt sein Gesicht ganz dicht an ihres, und sie versteht, daß das, was er ihr gerade sagt, das Geschwür davon abhält, sich von seinem Gesicht in seine Knochen und von seinen Knochen in sein Blut zu fressen. Es ist ein Damm, so wie der Staudamm, der gerade in Rangamati gebaut wird, der das Wasser wie eine riesige Hand zurückhalten und den Dörfern Strom liefern wird: Es hält ihn zusammen, es gibt ihm die notwendige Energie.
    In diesem Augenblick fällt Maya eine Entscheidung, eine, die sie in den folgenden Jahren noch oft bereuen wird. Sie sieht seinen leuchtenden, feuchten Augen an, daß er die Wahrheit sagt. Sie sieht, daß er ins Nichts gefallen ist und daß dieses Buch ihn, den Ertrinkenden, zurück an die Oberfläche gebracht hat, wo er wieder nach Luft schnappen kann. Auch sie selbst empfindet das Bedürfnis nach einer solchen Rettung, einem solchen Anker, einer solchen Wahrheit. Doch

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