Mein fremder Bruder
als ein Stück heiligen Wissens ein. Denn die Fähigkeit zum Mitgefühl ist ein rein menschlicher Charakterzug, doch der Allmächtige hat ihn uns geschenkt.
Von Anfang an war Ibrahim ein Sucher des Wissens. Doch sein Wissen war stets dem Willen Gottes untertan. Als sein Volk anfing, Götzen aus Ton anzubeten, wandte er sich an Gott, und Gott strafte es. Als Gott von Ibrahim die Opferung seines Sohnes forderte, mußte er sich dem Willen Gottes unterwerfen. Ibrahim war der Knecht Gottes, und es lag nicht in seiner Natur, nein zu sagen. Doch er wurde nicht nur von Pflichtgefühl angetrieben. Er wollte die wahre Natur seines Glaubens ergründen – ob dieser von ihm so geliebte Glaube der Opferung seines Sohnes standhalten würde. Mit dem Messer in der Hand beugte er sich über seinen Sohn. Und dann gab Gott ihm einen Widder anstelle von Isaak in die Hand.
Wir lernen Gott kennen, indem wir uns seinem Willen unterwerfen. Wenn wir akzeptieren, daß er es besser weiß als wir selbst, wissen wir, daß Hingabe der einzige Weg zu wahrem Glauben ist. Das Beste an uns als Menschen ist unsere Fähigkeit, die Wahrheit des Allmächtigen zu erkennen, die Wahrheit, die höher ist als alle Vernunft.«
Sie hörte den spitzen Klang seiner Stimme. Er wollte ihr etwas sagen. Er wollte ihr sagen, daß sie nicht gelernt hatte, wie man Demut übt, daß sie ihren Willen über den Gottes gestellt hatte. Und daß sie deswegen gestraft wurde, oder etwa nicht?
Maya wurde an eine Geschichte erinnert, die sie während des Krieges gehört hatte. Ein Mann war von Maschinengewehrfeuer getroffen worden, drei Geschosse saßen in seinem Rücken. Er war im Feldlazarett operiert worden (ohne Narkose, nur mit einem Lappen zwischen den Zähnen), zwei Kugeln waren entfernt, die dritte aber übersehen worden. Ein Stückchen dieser dritten Kugel war in seinen Blutkreislauf eingetreten und wie ein Tourist durch seinen Körper gewandert, bis es sich schließlich im Herzen festsetzte und ihn augenblicklich tötete.
Sie wußte, daß die Geschichte medizinisch gesehen nicht stimmen konnte. Aber es paßte zu ihr und Sohail. Beide waren verletzt worden, vielleicht durch den Tod ihres Vaters oder den dünnen Schimmelbelag von Armut, der ihre ganze Kindheit überzogen hatte. Das scharfe schwarze Geschoßteil wanderte frei in Maya herum, meldete sich manchmal in ihrer Leber, manchmal in den Gliedern, dann wieder im Bauch. Sie wachte davon auf und gab etwas von seinem Gift umgehend an denjenigen weiter, der gerade in ihrer Nähe war. Ammu und Sohail hatten das meiste davon abgekriegt.
Aber Sohails Schrapnellteil hatte sich in seinem Fleisch festgesetzt, und das Gift sickerte ganz langsam in ihn ein, bis er lebendig starb. Und dieser Erdgeruch des Grabes hatte Sohail so früh im Leben zu einer Kreatur halb Geist, halb Mensch werden lassen. Das war der Grund, weswegen er immer ein Publikum hatte, sobald er eine Rede hielt, unterwegs oder in der Moschee, warum ihn alle in seinem Umkreis unbedingt aus der Nähe sehen und berühren wollten. Er war zum Propheten geboren und von Anfang an Meister seiner selbst gewesen. Aber jetzt predigte er ihr, daß die Quelle seiner Macht nicht die Herrschaft, sondern die Hingabe war. Auch Maya sollte akzeptieren, wie kleinund wie begrenzt in ihrer Menschlichkeit sie war. Tat sie das nicht, würde es unschöne Konsequenzen geben.
Hinterher verließen die Männer den Raum, der Vorhang wurde zurückgezogen, und die Frauen begannen mit den Vorbereitungen für das Abendessen. Sohails Predigt ließ Maya nicht los. Sie ging aus dem Versammlungssaal zu Khadija in die Küche, wo sie vor einem kleinen Gaskocher hockte.
»Hat dich der Bayaan mit Freude erfüllt?« fragte sie. Selbst wenn Khadija nichts Heiliges rezitierte, drückte sie sich sehr gewählt aus.
Maya wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Mit Freude erfüllt war sie nicht gerade.
»Der Junge«, sagte sie statt dessen. »Mein Neffe.«
»Du meinst den Sohn des Huzur?«
»Genau, Zaid. Ich unterrichte ihn ein wenig zu Hause, aber seit Ammu krank ist, habe ich nicht mehr soviel Zeit. Ich würde ihn gern in der Schule anmelden.«
Khadija schien das einen Augenblick zu bedenken. Sie rührte eine Handvoll Chilischoten in einen Topf mit Dal.
»Der Kleine hat Schwierigkeiten«, fuhr Maya fort.
»Du hast recht«, antwortete Khadija zu ihrer Überraschung. »Ich kann es nicht abstreiten. Dein Bruder ist der gleichen Meinung.«
»Ihr wißt es also.«
»Wir haben das Problem
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