Mein fremder Bruder
mit Nierenschalen und Blut- und Salzlösungsbeuteln zielstrebig hin und her liefen. Sie hatte auf einmal unfaßbare Angst um ihre Mutter, und die düstere Vorahnung, welche sie unter dem Jackfruchtbaum in Rajshahi überfallen hatte, erfaßte sie von neuem – was alles schiefgehen konnte, und das bohrende Gefühl, daß das alles ihre Schuld war und der Tumor aus der Einsamkeit ihrer Mutter gewachsen war. Am liebsten hätte sie Ammu gebeten, die Operation abzusagen, sie zu verschieben, vielleicht auf den Winter, wenn es nicht mehr so heiß und ein Stromausfall weniger wahrscheinlich war. Oder vielleicht bis sie einen noch besseren Arztgefunden hatten, einen jüngeren, der gerade mit den neuesten Narkosetechniken aus dem Ausland zurückgekehrt war. Und Sufia hatte natürlich recht: Würde ihre Mutter sterben, wäre Maya nie und nimmer in der Lage, sie zu ersetzen. Die Bougainvillea würde absterben, und die Früchte würden ungepflückt vom Guavenbaum herunterfallen. Außerdem war Ammu war der einzige Mensch auf der Welt, der Maya noch liebte.
Ammu wollte nichts weiter als ein Gebet. Diesen Wunsch würde sie ihr doch wohl erfüllen können. Sie versuchte, die Worte in sich wiederzufinden, aber sie waren tief in ihr vergraben und mit zu vielen anderen Dingen verstrickt. Die Enttäuschungen, ihr wundes Herz, der Zustand ihres Landes und der Diktator, der sich mit jedem zweiten Wort auf Allah bezog – all das lag wie eine Last auf den Worten des heiligen Buchs getürmt. Keine Sorge, wollte sie ihrer Mutter sagen, wir brauchen den Thronvers nicht. Wir haben doch die Wissenschaft. Aber sie konnte nicht anders, sie mußte daran denken, daß jeder Tod, jede Trennung von Körper und Geist, deren Zeugin sie geworden war – auf dem Dorf, im Feldlazarett, in den Krankenhausstationen –, stets von Gebeten begleitet worden war.
Dr. Sattar trat durch den Vorhang, gefolgt von einer ganzen Schar von Medizinstudenten, die sich in den Raum drängten. »Ist meine Patientin soweit?« Er nahm die Akte am Fußende des Betts zur Hand.
Rehana winkte ihm zu, als sei er sehr weit weg. »Sie hätten doch nicht selbst zu kommen brauchen, Herr Doktor.«
Dr. Sattar überraschte Maya mit einem Lächeln. »Unsinn. Wir sorgen für unseresgleichen, habe ich recht, Dr. Haque?«
»Ja, Sir«, antwortete sie.
Er befahl den Studenten, Rehana den Blutdruck zu messen und den Tropf richtig einzustellen. Sie wuselten nervös um ihn herum. »Ihr Bruder wartet draußen«, sagte einer von ihnen zu Maya.
»Bruder?« erwiderten Maya und Rehana wie aus einem Mund. Einen Augenblick lang dachte Maya, es könnte sich umirgendeinen entfernten Cousin ihrer Mutter handeln, der nach Erhalt des Telegramms aus Karatschi eingetroffen war. Doch dann wurde Maya klar, daß es sich um Sohail handeln mußte.
»Ich bin gleich wieder da, Ma«, sagte sie. »Sag einfach der Krankenschwester Bescheid, wenn du irgendwas brauchst.«
Sohail lehnte an der Balkonbrüstung, den Blick auf das Kachelmosaik unten gerichtet. Der Himmel über ihnen bezog sich, wurde lila und grau, es war völlig windstill. Alles hielt in diesem Augenblick vor dem Nachmittagsguß die Luft an.
»Wie geht es Ammu?« fragte er.
»Es geht ihr bestens. Du solltest reingehen und ihr hallo sagen.« Unsere Mutter könnte sterben, dann wären wir Waisen, und ich deine letzte Angehörige . Ob er dasselbe dachte?
»Der Chirurg –«
»Er ist sehr erfahren, mach dir keine Sorgen. Sie wird wieder gesund.« Oder auch nicht. War er von dem Tonfall überzeugt, den sie anzuschlagen versuchte, der Sicherheit der Medizinerin?
Er nickte. »Inschallah.«
»Und du, wie geht es dir?« Sie musterte ihn; ihr Blick blieb an dem blauen Fleck an seiner Stirn hängen, der dort von den unendlich vielen Niederwerfungen auf dem Gebetsteppich wie eine schwarze Perle hing.
»Allah sei Dank geht es mir gut.« Es fing an zu regnen, der heftige, seitlich einfallende Regen, der Maya an ihre Kindheit erinnerte, an den Geruch von nassem Zement, als sie zu den Fenstern gerannt waren, um sie schnell zuzumachen, bevor die Matratzen durchnäßt waren. Sohail trat nicht vom Balkongeländer zurück. Maya blieb neben ihm stehen, und der Regen prasselte mit voller Wucht auf beide ein. Sohails Bart glänzte vom Wasser. Er richtete sich auf und musterte Maya eingehend. War das Zärtlichkeit, was sie in seinem Blick sah? Sie versuchte, die Augen trotz des Regengusses offenzulassen. Es wäre zu schlimm, wollte sie von ihm hören, zu schlimm,
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