Mein fremder Bruder
Telefonmädchen überbrachte Maya eine Nachricht. Schwester Khadija wollte eine Milad für Ammu abhalten. DieFrauen von oben wollten den gesamten Koran einmal rezitieren und diesen Segen auf Ammus Genesung hinlenken. Ob sie teilnehmen wolle? Maya hatte ein friedvolles Bild im Kopf: der Geruch vieler Körper, vermischt mit dem Ascheduft des Attar. Gegen ihren Willen sagte sie ja.
Die Frauen saßen in Dreier- und Vierergrüppchen zusammen. Die Köpfe hatten sie bedeckt, aber ihre Hände und Füße, die normalerweise in Handschuhen und Socken steckten, waren zu sehen und in ständiger Bewegung: Sie trugen Teller mit Essen ins Zimmer, verteilten Sitzkissen, liefen geschäftig umher. Khadija umarmte sie herzlich.
»Schwester«, sagte sie. »Bitte nimm doch Platz.« Der Boden wurde frei gemacht und ein frisches Stück Stoff unter ihr ausgebreitet. Maya blickte sich um und sah, daß ihr viele die Gesichter zuwandten. »Das ist die Schwester vom Huzur, Maya.«
Ein Chor von Salaams ging durch den Saal. »Hier kennen dich alle. Der Huzur hat von dir gesprochen.«
Eine junge Frau mit tiefschwarzen Haaren kam auf Maya zu und lächelte sie geradezu umwerfend an. Das Telefonmädchen. »Maya, das ist Rokeya.« Rokeya grüßte mit einem Salaam. »Du bist Ärztin?« fragte sie.
»Ja, ich bin in Chirurgie ausgebildet.«
»Bei Sir Sattar?«
»Ja, er war mein Professor. Kennst du ihn?«
»Ich war auch am Dhaka Medical.«
»Wirklich – welcher Jahrgang?«
»1983.«
Sie hatte ihre Ausbildung zur Ärztin also erst letztes Jahr abgeschlossen. Was für eine Verschwendung, dachte Maya. Jetzt wartet sie nur, daß ihr Mann, wahrscheinlich irgendein faltiger alter Kerl, sie jeden Nachmittag anruft, breitet eine Decke für mich aus und nennt meinen Bruder Huzur.
»Kann ich dir eine Tasse Tee kochen?« Rokeya zupfte an ihrem Kopftuch. »Wie hättest du ihn gern?«
Sie lief davon, und Khadija bedeutete Maya, daß sie sich setzen sollte. Dann drehte sie sich zu den anderen Frauen um und sagte: »Bismillahirrahmanirrahim, laßt uns beginnen.«
Alle zogen eine Gebetskette hervor und fingen an, die Kalma leise vor sich hin zu murmeln. Die Perlen aus Stein und Holz glitten durch ihre Handflächen, während sie die Kette mit den Daumen weiterschoben. Leere Schälchen wurden weitergereicht, in den vier Ecken des Raums lagen kleine Häufchen getrocknete Kichererbsen. Wenn zu jeder Perle der Kette ein Gebet gesprochen worden war, legten die Frauen eine Kichererbse in die Schale vor sich.
Khadija ließ sich schwerfällig nieder und schlug den Koran auf. Sie fing an zu rezitieren.
*
Am zweiten Tag teilte Rokeya ihr mit, daß Sohail ausnahmsweise einmal selbst beim Talim anwesend sein würde. Er würde sogar predigen. Ob sie kommen wolle?
Als Maya ankam, war bereits alles still, und die Frauen gingen mit ihr zusammen nach hinten in den kleinen Saal. Sie waren schweigend dabei, Teller einzusammeln und Laken vom Boden hochzuheben, auszuschütteln und Plätze zuzuweisen. Setz dich dahin, gib Schwester Zayna das Kissen.
Es war genau wie bei der Trauerfeier. Ein Vorhang wurde quer durch den Raum gespannt und teilte ihn in zwei Hälften. Die Frauen saßen dicht an dicht in der hinteren Hälfte. Hinter dem Stück Stoff waren Schritte und gedämpfte Stimmen zu hören, als die Männer hereinkamen. Männer, die sich räusperten. Auf der Frauenseite wurden die Kopftücher enger gezogen, als ob allein das Geräusch ihrer Brüder auf der anderen Seite eine Extraportion Vorsicht notwendig machte.
Hinter dem trennenden Tuch fing ihr eigener Bruder an zu sprechen.
»Bismillahirrahmanirrahim, meine Brüder und Schwestern.Ich werde heute über den Propheten Ibrahim sprechen, Friede und Segen sei mit ihm. Die Geschichte Ibrahims ist alt und heilig. Unser Prophet und Bruder Ibrahim, der Friede Allahs sei mit ihm, war ein Mann der Schrift. Er übersetzte die alten Texte ins Hebräische; er sprach die Sprachen der Griechen und Assyrer fließend. Trotz seiner enormen Bildung sehnte er sich auch danach, die Geheimnisse menschlicher Gefühle zu verstehen, die Freuden und Genüsse – nicht des Fleisches, sondern des Herzens und Geistes. Als er seinen Sohn hochhob, um ihn zu opfern, spürte er die Liebe in seiner Brust steigen wie die Flut, die vom Mond angezogen wird. Das prägte er sich gut ein, er konnte aus allem etwas lernen. Und als die Mythen der Vorväter Ibrahim aus Mitleid oder Wut über ihre Torheit zum Weinen brachten, dann prägte er sich auch das
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