Mein fremder Bruder
unsere Mutter jetzt zu verlieren. Doch statt dessen sagte er: »Zaid hat mir erzählt, er hätte die englischen Buchstaben bei dir gelernt.«
»Ja. Demnächst liest er Middlemarch .«
Er lachte. Sie lachte. Der Regen hörte so plötzlich auf, wie er angefangen hatte. Sie wollte ihren Bruder umarmen und tat es auch, und er umarmte sie auch und drückte sie an sich. Regen vermischte sich mit salzigen, warmen Tränen.
»Es wird nichts Schlimmes passieren, Bhaiya«, sagte sie.
»Von Schwester Khadija habe ich gehört, du hättest Zaid Kartenspiele beigebracht.«
»Ja«, antwortete sie, »er ist schrecklich gerissen.«
»Schwester Khadija ist verärgert. Glücksspiel ist nicht erlaubt.«
Maya trat einen Schritt zurück, als der Schock seiner Worte sie traf. »Ja, aber es ist doch nur ein Spiel. Ammu spielt auch Karten.«
»Du kennst den Unterschied zwischen halal und haram. Wenn nicht, dann sollte Schwester Khadija vielleicht besser wieder Zaids Erziehung übernehmen.«
Nein, so hatte sie das doch nicht gemeint. Verzweiflung überkam sie. »Nein, bitte nicht.«
Er legte ihr die Hand auf die Schulter, als würde sie ihn vielleicht sonst nicht verstehen. »Der Junge vermißt seine Mutter, das weiß ich ja. Ich müßte mehr Zeit für ihn haben, aber …«
Sie versuchte, nicht sarkastisch zu klingen. »Deine Verpflichtungen?«
Er wirkte verletzt und sah an ihr vorbei hinauf zu dem kleinen Fleckchen blauem Himmel, das jetzt zwischen den Wolken sichtbar wurde. »Ein Junge muß seinen eigenen Weg in der Welt finden.«
Sie war sich nicht sicher, was er damit meinte, aber sie wollte ihm zustimmen, wollte seiner Meinung sein und Sohail versichern, daß er sein Bestes tat. Es war bestimmt nicht einfach, einen Sohn aufzuziehen. Er legte die Regeln fest, das war ihr klar, aber bei ihm klang es so, als habe er keine Wahl, als sei es eine Art Naturgesetz, das er dem Jungen auferlegte. Sie kämpfte mit sich, weil sie genau wußte, daß sie ihn ganz verlieren konnte,wenn sie zu vorlaut war. Daß er ihr vielleicht nur deswegen noch einmal eine Chance gab, weil seine Frau nicht mehr da war, weil sie gestorben war, bevor sie ihm den letzten Tropfen Gift ins Ohr träufeln konnte, von dem er für immer taub für sie geworden wäre. Maya versuchte, wenigstens dafür dankbar zu sein.
»Geh doch rein und besuch Ammu – sie wartet auf dich.« Und sie drehte sich um und ging die Treppe hinunter in Richtung OP, wobei sie sich die Wangen, die noch naß vom Regen waren, mit dem Ende ihres Saris trocknete.
1972
Mai
Es ist das Frühjahr, nachdem er aus dem Krieg zurückgekehrt ist, und Sohail stellt fest, daß seine Hände nicht aufhören zu zittern. Er drückt sie an die Brust. Er umfaßt die Teetasse mit beiden Händen. Er steht im Schlafzimmer seiner Mutter in der Tür. Ma, will er sagen, meine Hände zittern. Kannst du ein Gebet sagen und pusten? Kannst du meine Finger an deinen festbinden? Doch er sagt nichts. Er ist kein Kind mehr; er ist ein Mann, ein Soldat, der aus dem Krieg zurück ist. Er fragt sich, ob es ihm wieder gutgehen kann, ob er jemals wieder unschuldig sein kann. Nach Piya, nach dem Töten.
Und so kam der Krieg zu ihnen ins Haus. Sohail, der Wasser aus seinem Glas verschüttet, dem der Dal vom Teller fällt. Eine verschwundene Frau. Eine zitternde Hand. Ein Schweigen zwischen Geschwistern.
Er hat einen unschuldigen Mann getötet. Der Mann war kein Feind, kein Soldat. Nur jemand, der das falsche Wort zur falschen Zeit gesagt hat. Jetzt gibt es nur noch eine Art, gut zu sein. Das Buch hat ihm gesagt, daß er gut ist, daß es in der Natur des Menschen liegt, gut zu sein. Die Worte haben ihn bekehrt, und er ist voller Liebe zum Buch. Wochen nach Piyas Verschwinden – nur eine schwache Ahnung ihres Geruchs ist zurückgeblieben, den er in der Küche zu erschnüffeln versucht, wo sie im Hocken gearbeitet hat, oder an dem Fleck auf dem Boden, wo sie ihre Schlafmatte entrollt hat – klettert er die Leiter hoch aufs Dach und sitzt im Schneidersitz unter der offenen Sonne. Es ist Mai, ein windloser, regenloser Monat, in dem nichts als Hitze vom Himmel kommt. Er sitzt da und liest die Worte. Seine Mutter hat ihm das Buch gegeben, und er liest die Worte, statt sich mit seinen Freunden zu treffen oder den Sieg zu feiern. Von weit weg hört er die alten Freunde: Es wird Zeit, mit dem Studium weiterzumachen; hör auf, deiner Mutter Sorgen zu bereiten. Mensch, komm, freu dich, der Krieg ist vorbei. Jetzt wird gefeiert.
Am
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