Mein geheimes Leben bei Scientology und meine dramatische Flucht (German Edition)
Augen. Auch wenn ich meine Eltern in den letzten vier Jahren kaum gesehen hatte, war ich diese dreitausend Meilen schon häufiger geflogen. So geärgert hatte ich mich über die Strecke aber noch nie.
Eine Frau, die mir vage bekannt vorkam, holte mich am Flughafen ab. Schon auf der Fahrt in die Stadt zog mich die aufregende Atmosphäre von Los Angeles in ihren Bann. Während wir im morgendlichen Berufsverkehr feststeckten, sah ich überall riesige Werbetafeln mit Modeartikeln, in der Ferne erhoben sich Hügel, und Menschen eilten die Straße entlang oder standen in Trauben zusammen und unterhielten sich. Ich kam mir vor wie in einer anderen Welt.
Ich ging davon aus, dass wir in L. A. sofort Richtung Osten abbiegen würden, um auf der Route 60 die zwei Stunden bis zur Int zu fahren, und machte es mir gemütlich. Stattdessen fuhr der Wagen jedoch auf einen Parkplatz, dessen Tor sich automatisch hinter uns schloss. Wir überquerten die Straße und betraten ein großes, mir unbekanntes Gebäude, das Hollywood Guaranty Building. Die Wände der Eingangshalle waren mit Marmor verkleidet, und um die hohe Decke verlief ein Wandgemälde. Ich wusste noch immer nicht, was wir hier wollten, stellte aber keine Fragen, da die Frau vermutlich nur die Fahrerin war. Andere Sea Org-Mitglieder, denen wir hier begegneten, sahen irgendwie anders aus. Sie trugen noch das alte Sea Org-Blau, das wir schon eine Weile nicht mehr benutzten. Die neue Uniform hob sich stärker vom Navy-Stil ab, und Hemd sowie Tuch besaßen eine andere Farbe. Auf den Rest der Sea Org-Welt wirkte jeder im veraltete Sea Org-Blau so seltsam, dass ich mich wie auf einer Zeitreise zurückversetzt fühlte.
Der Sicherheitsangestellte am Eingang grüßte meine Begleiterin und ließ uns passieren. Wir nahmen den Fahrstuhl in den zwölften Stock und gingen in einen mit grünem Teppichboden ausgelegten Konferenzraum. Um einen großen, rötlich schimmernden Holztisch standen einige Stühle. Ich sah aus dem Fenster, dachte über meine Situation nach und kam mir vor, als würde ich in einem schlechten Traum auf eine fremde Welt hinabblicken. Vor zwölf Stunden hatte ich mich zwar noch mit Mr. Anne Rathbun auseinandersetzen müssen, aber zumindest hatte ich gewusst, wo ich mich befand und wer die Menschen in meiner unmittelbaren Umgebung waren. Jetzt hatte ich keine Ahnung, was als Nächstes geschehen würde.
»Setz dich«, wies die Fahrerin mich an. »Es wird sich gleich jemand um dich kümmern.« Ich wartete ungeduldig. Meine Händen waren eiskalt, dennoch schwitzte ich an den Innenflächen. Ich war übernächtigt und erschöpft, zugleich versetzte mich die Sorge, was eigentlich los war, in Anspannung.
Dreißig Minuten später trat Marty ein, der Ehemann von Anne Rathbun, in Begleitung von unserem früheren Mitbewohner Mike Rinder, dem Vater von B. J., der inzwischen das Office of Special Affairs leitete. Ich war völlig überrascht, sie hier zu treffen, andererseits erfolgten solche abrupten Wendungen in meinem Leben nicht zum ersten Mal. Sie lächelten mir zu und fragten, ob ich einen Wunsch hätte. Ich verneinte.
Mr. Rathbun machte den Anfang. »Weißt du, Jenna, ich denke, das Beste wird sein, es dir gleich ganz offen zu sagen. Ronnie und Bitty« – womit er meine Eltern meinte – »sind nicht mehr länger in der Sea Org.«
Seine Stimme klang nüchtern und ausdruckslos. Er wartete auf meine Reaktion. Ich brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was er gesagt hatte. Dann bemühte ich mich darum, meine Gefühle nicht offen zu zeigen.
»Was ist passiert?«, fragte ich ruhig.
»Ich kann an dieser Stelle nicht in die Einzelheiten gehen«, erwiderte er.
Er begann zu schildern, was nun geschehen würde, und zwei Dinge wurden bei seinen Worten klar. Zum einen begriff ich, dass alles, was ich durchgemacht hatte – die Monate voller Security-Checks, Toilettenschrubben, die CMO EPF -Uniform und die Zwangstrennung von Martino und meinen Freunden –, nicht die Folge von etwas war, das ich getan hatte, sondern an dem Entschluss meiner Eltern lag, die Sea Org zu verlassen. Ich war überrascht und stinksauer. Also hatte ich all die Zeit im Prinzip eingesperrt im Klo verbracht und mir das Hirn zermartert, mit welchem Vergehen ich eine solche Strafe verdiente, obwohl ich nicht einmal dafür verantwortlich war. Zum anderen verstand ich, dass es nur einen einzigen Grund dafür geben konnte, mich dieser ganzen Prozedur zu unterziehen: Ich wurde weggeschickt, wurde gezwungen,
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