Mein glaeserner Bauch
Praxis meiner ehemaligen Frauenärztin die Sprechstundenhilfe ein eng bedrucktes Blatt zum Thema Ultraschall aus. Ich hatte es hinter ihr an der Rezeption in einem Ständer mit Informationsmaterial entdeckt. Eigentlich sei das nur für Schwangere, erklärte sie streng.
Anders als vermutet, wurde hier nicht über die möglichen Folgekonflikte einer Nackenfaltenmessung informiert, sondern die Hinweise dienten lediglich der Absicherung der Ärztin gegen übersteigerte Erwartungen an diese Methode der Untersuchung.
Auch bei guter Gerätequalität, größter Sorgfalt und Erfahrung des Untersuchers kann nicht erwartet werden, dass zu jedem Zeitpunkt der Schwangerschaft alle Fehlbildungen und Veränderungen erkannt werden können. Aus einem unauffälligen Ultraschallbefund kann nicht abgeleitet werden, dass das Kind normal entwickelt und gesund ist. Aufmerksam gemacht wird auch darauf, dass Chromosomenstörungen (z. B. Down-Syndrom) oder Stoffwechselerkrankungen mit Ultraschall nicht erkannt werden können. Mit Ihrer Unterschrift erklären Sie, dass Sie die Grenzen der Ultraschalluntersuchung zur Kenntnis genommen und verstanden haben.
Dass Chromosomenstörungen – zum Beispiel eine dem Down-Syndrom zugrunde liegende Trisomie 21 – mit Ultraschall nicht erkannt werden können, hatte ich bei meiner Schwangerschaft auch geglaubt. Inzwischen weiß ich, das ist nur die halbe Wahrheit.
Vielfältiger denn je, wie ich im Wartezimmer der Gynäkologin feststellte, sind Materialien zum Thema »Anti-Aging«. Da wird jugendliche Frische für die Haut durch Hyaluronsäure versprochen, müden Augen und traurigen Mundwinkeln mit Spritzen der Kampf angesagt. Neuer Schwung und sinnliche Fülle der Lippen werden als maßgeschneidertes Produkt beworben.
Ein Hersteller von Anti-Aging-Produkten und Nahrungsergänzungsmitteln wirbt mit einem eigenen Magazin, das zunächst wie eine normale Zeitschrift daherkommt. Doch natürlich wirbt er ausschließlich für die eigenen Präparate sowohl in den Reportagen und Interviews als auch in den Anzeigen. Sogar für rezeptpflichtige Produkte.
Für mich sind das alles durchaus fragwürdige Informationen im Wartezimmer einer gynäkologischen Praxis. In der Rolle der Patientin werde ich umworben als Kundin. Die ärztliche Praxis wird zum Verkaufsraum. Und die Produktversprechen weisen alle in die gleiche Richtung: Attraktivität und Leistungsfähigkeit.
Idealer Muntermacher am Morgen und tagsüber bei erhöhtem Leistungsbedarf. – Bindet Fette im Magen-Darmtrakt und verhindert so die Aufnahme von übermäßigen Kalorien. – Zur Bekämpfung von Cellulite von innen und außen. – Schnellentkalker für die Gefäße. – Verbessert die Gehirnleistung und -funktion. – Steigert Vitalität und Leistungsfähigkeit. – Grundlage einer volleren und strafferen Brust. – Unterstützt die Regeneration der Leber, beschleunigt die Entgiftung nach fettreichen Mahlzeiten und Alkoholkonsum. – Zur Steigerung von Energie und Libido. – Die konzentrierte Kraft der Muttermilch stärkt das Immunsystem, hilft bei chronischer Müdigkeit, Burn-Out-Syndrom und beschleunigt Heilungsprozesse. – Aktiviert ein spezielles Langlebigkeitsgen und ist bisher die einzige Substanz, die nachweislich bei verschiedenen Organismen zu einer deutlichen Lebensverlängerung führt.
Obwohl das Heft mit den Anti-Aging-Produkten dazu auffordert, das Älterwerden nicht passiv zu erdulden, stellen die meisten Fotos Menschen dar, die nicht älter sind, als ich mir Adam und Eva im Paradies vorstelle, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen haben. Bevor sie vertrieben wurden aus dem Garten Eden, damit sie nicht auch noch essen vom Baum des Lebens, wie es in dem alten Mythos heißt. Hat da die Angst vor dem Tod angefangen?
Als Logo der so werbenden Firma der Verjüngungsindustrie dient eins der berühmtesten Motive Leonardo da Vincis: Ein nackter Mann mit ausgestreckten Armen und Beinen, der mit seinen Fingerspitzen und Sohlen einen Kreis und ein Quadrat berührt, die ihn umgeben. Sein Nabel ist der Mittelpunkt des Kreises, sein Schritt Mittelpunkt des Quadrats. Ein Idealbild menschlicher Schönheit.
Leonardos Federzeichnung der fünf Ansichten eines Fötus oder seine Studie eines Fötus in der Gebärmutter im vierten Monat hätte ich in einer gynäkologischen Praxis angemessener gefunden und eher erwartet. Nicht nur, weil sie mich an meine Begegnung mit meinem Kind erinnern.
Doch dann begreife ich langsam. Hier geht es um etwas
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