Mein glaeserner Bauch
gewesen war, der mich dahin gebracht hatte, wo ich jetzt war. Selbst eine Betäubungsspritze beim Zahnarzt konnte mich seitdem aus der Fassung bringen. Mein Vertrauen in das medizinische System hatte ich längst verloren.
Was verleitete Frauenärzte, seien sie weiblich oder männlich, zu solch einer Bevormundung ihrer Patientinnen? Hatte ich über Jahrzehnte immer nur schwarze Schafe erlebt, oder gab es etwas, was viele Ärzte verbindet, vermittelt durch Ausbildungsstandards oder von der Pharmaindustrie geförderte Fortbildungen? Schon als Studentin hatte mich der erste Gynäkologe verblüfft. Ungefragt und ohne Notwendigkeit hatte er mir eine Dreimonatspackung Antibabypillen in die Hand gedrückt. Für alle Fälle.
Jahre später machte sich ein anderer Gynäkologe über mich lustig, als ich ein neues Diaphragma brauchte, das ich in den USA als das Verhütungsmittel meiner Wahl entdeckt hatte. Wie ich so eine veraltete Methode überhaupt in Betracht ziehen könne, mokierte er sich und holte erst, als ich beharrlich blieb, widerwillig ein Muster zur Anpassung. Aus seinem Museum, wie er betonte. Ob zur Verhütung oder zur Behandlung von Wechseljahrsbeschwerden – die Versuchung scheint groß zu sein, Patientinnen zur Hormoneinnahme zu drängen.
Und jetzt also Psychopharmaka. Als geradezu selbstverständlich wird ihre Wunderwirkung von vielen Medizinern akzeptiert. Vielleicht rechnet sich das ja auch für sie. Psychopharmaka gehören zu den weltweit am häufigsten verschriebenen Medikamenten. Eine der Haupteinnahmequellen der Pharmaindustrie.
Ich wollte keine Droge für mein Gehirn, die mir vorgaukelt, das Unerträgliche habe sich aufgelöst, wäre auf einmal erträglicher. Die mir Glückshormone in meine Trauer träufelt, damit ich besser funktioniere.
In Deutschland werden heute doppelt so viele Antidepressiva genommen wie noch vor zehn Jahren. Die Wissenschaft führt den Anstieg von Depressionen auch auf die veränderten Lebensumstände im globalisierten 21. Jahrhundert zurück. Depressionen werden nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation ( WHO) im Jahr 2030 die häufigste Form der Erkrankung in Industrienationen sein.
Das persönliche Leid, das Betroffene, ihre Familien und Freunde durchmachen, lässt sich nicht in Zahlen ausdrücken. Die Schäden, die Depression verursacht, sind niemals zu beziffern. Berechnen lässt sich allerdings, was diese Krankheit die deutsche Volkswirtschaft jährlich kostet. So hat etwa ein führendes Versicherungsunternehmen den Kostenfaktor Depression berechnet, und ein Institut für Wirtschaftsforschung spricht in einer Veröffentlichung zum Thema Depression von Summen zwischen 15,5 und 21,9 Milliarden Euro. 93
Wenn ein führendes Versicherungsunternehmen und ein Institut für Wirtschaftsforschung sich mit Depression beschäftigen, geht es nicht in erster Linie darum, wie die Krankheit unsere Seele belastet, sondern welche wirtschaftlichen Folgen sie haben kann. Psychische Belastungen, Burn-out und Depressionen sind zu einem Kostenfaktor geworden, der nicht mehr einfach ignoriert werden kann.
Interessant ist, dass inzwischen sogar die Genforschung eine Reihe von Genen identifiziert haben will, die womöglich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, an Depression zu erkranken. 94 Ohne die genauen Ursachen zu verstehen oder die Fülle von biologischen Faktoren und Umwelteinflüssen zu berücksichtigen, werden von Medizinern und Genetikern in Blutproben und Zellabstrichen die biologischen Wurzeln für seelische Erkrankungen gesucht. Gene, die angeblich Menschen für Depression anfälliger machen.
Aus den genetischen Daten von Testpersonen werden Wahrscheinlichkeiten errechnet, was vermutliche Risiko-Gene sein könnten. Jedoch ist dies nicht mehr als ein statistisches Konstrukt. Wie groß der Einfluss der Gene wirklich ist, bleibt Spekulation.
Das sogenannte Gen ist hier nichts anderes als eine Variable in einem mathematischen Modell, schreibt Silja Samerski in ihrem Buch Die Entscheidungsfalle – Wie genetische Aufklärung die Gesellschaft entmündigt, eine auch für Laien gut verständliche, kritische Auseinandersetzung mit moderner Gen-Gläubigkeit. Selbst Erkrankungen, die bisher als eindeutig umweltbedingt galten, werden durch die Verrechnung von Umweltdaten mit genetischen Daten inzwischen zum genetischen Problem erklärt. Das geht sogar so weit, dass genetische Grundlagen dafür erforscht werden, warum manche Menschen von Pestiziden, Abgasen und Weichmachern krank
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