Mein glaeserner Bauch
sind umfangreich und anspruchsvoll und schließen den Erwerb ethischer Reflexionskompetenz mit ein. Doch wo und wie setzt sich der Gynäkologe mit seiner eigenen Haltung zu Pränataldiagnostik und Behinderung auseinander, wenn ein umfangreiches Pensum in sechs Zeitstunden durchgepaukt wird? Wäre das reflektierte Nachdenken über die eigene Einstellung nicht eine Grundvoraussetzung für eine ergebnisoffene Beratung?
Auch die vorgesehene Einübung von praktisch-kommunikativer Beratungskompetenz lässt mehr als zu wünschen übrig. Die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe ( DGPFG ) sieht sogar eine Diskrepanz zwischen dem Ziel des Gendiagnostikgesetzes und den Qualifizierungsmaßnahmen, die von der Gendiagnostikkommission vorgeschlagen wurden. Die Qualifikation zur psychosomatischen Grundversorgung haben zwar viele Frauenärzte und Frauenärztinnen inzwischen tatsächlich erlangt. Seit mehreren Jahren ist sie Bestandteil der Facharzt-Weiterbildung und sei eine hilfreiche und wichtige Grundlage für Beratung im Kontext der vorgeburtlichen Risikoabklärung. Dies stellt aber nach Einschätzung der DGPFG keine ausreichende Qualifikation dar. Betont wird, dass beides – der Erwerb von genetisch-fachlicher und von kommunikativer Kompetenz – eng miteinander verzahnt sei und darüber hinaus der Diskussion unter Supervision bedürfe. 127
Die Chance, schwangeren Frauen eine im umfassenden Sinne freie Entscheidung zu ermöglichen angesichts der rasanten Entwicklung genetischer Diagnostik, scheint also vorerst vertan. Wie hieß es schon im Bericht der Enquetekommission Recht und Ethik der modernen Medizin an den Deutschen Bundestag von 2002: »Die zu Beginn der Einführung einer ethisch und /oder juristisch kontrovers diskutierten Methode gesetzten hohen Qualitätsstandards halten dem ›rauen Alltag der medizinischen Praxis‹ nicht stand.« 128
Vielleicht hilft jetzt nur noch, dass die Schwangere sich tatsächlich als kritische Kundin in der gynäkologischen Praxis versteht. Denn der Bericht an den Bundestag stellte ebenso fest: »Es kann auch nicht übersehen werden, dass vielfach wirtschaftliche Gesichtspunkte zu der aufgedrängten Pränataldiagnostik führen.« 129
A ls ich mich entschloss, über meine Erfahrungen mit pränataler Diagnostik zu schreiben, war mir längst klar, welche katastrophale Wirkung dieses traumatische Erlebnis für mich gehabt hatte. Und wie schwer es mir immer noch fiel, darüber zu sprechen. Aber ich hatte auch angefangen zu begreifen, dass ich mich mit einem in unserer Gesellschaft weitgehend unausgesprochenen Thema beschäftigte.
Um in Ruhe nachdenken und schreiben zu können, suchte ich nach einem geeigneten Ort. Und fand ihn tausend Kilometer weit weg von zu Haus, in einem Dorf in Frankreich. Ein alter, verwitterter Zirkuswagen, aufgestellt am Rande eines großen, etwas verwilderten Grundstücks, war genau das Refugium, nach dem ich so lange gesucht hatte. Ein Teich zum Schwimmen gleich nebenan, eine Dusche in der Werkstatt des Besitzers, eine kleine Küchenzeile, ein Schlafsofa und ein alter Küchentisch als Arbeitsplatz im Wagen, mehr brauchte ich nicht.
Mein Rückzug in den bauchigen Jahrmarktswagen war eine wohltuende Abkehr vom Alltag. Auch von meinem Arbeitsalltag. Von Qualitätskontrollen und Prozessoptimierungen. Von der unendlichen Warenwelt, die uns sonst umgibt. Von der Unterhaltungsindustrie und ihrer zeitlosen Präsenz, die das Vergangene im Hier und Jetzt ignoriert. Das Leben in diesem Holzwagen wirkte geradezu als Gegengift. Und es war eine Zuflucht vor der Welt der perfektionierten Menschen. Eine Chance, nach der tiefen Krise wieder die Wurzeln meiner Identität zu spüren.
Vermutlich hatte sein ehemaliger Besitzer diesen Wagen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt gefahren, und Kinderherzen schlugen höher, wenn Jungen oder Mädchen mit wenigen Groschen in der Hand ihre Entscheidung zwischen gebrannten Mandeln, kandierten Früchten, rot-weiß gestreiften Zuckerstangen, Lebkuchenherzen oder bunter Zuckerwatte treffen mussten.
Die Fahrten des Wagens waren längst zu Ende. Mich aber sollte er wieder beweglicher machen, und vor allem sollte er mich schützen bei meiner Reise in die Vergangenheit. Der Jahrmarktswagen als meine Zeitmaschine, mit der ich vergangene Orte des Verlusts bereiste. Nach früheren Erfahrungen, nach Wegen suchte, um das Geschehene zu begreifen.
Ich teilte mir den Raum mit einem Tier, das vermutlich schon lange vor mir
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