Mein glaeserner Bauch
ohne Druck der Gynäkologin, ohne ärgerliche Reaktion ihres Kollegen, ohne den sportlichen Ehrgeiz einer jungen Ärztin im Praktikum? Warum wurde Klaus und mir Angst gemacht? »Bei Ihnen ist alles noch viel schlimmer?« Warum durfte Leon nicht dann sterben, wenn seine Zeit gekommen war?
Eine Humangenetikerin, mit der ich während der Arbeit an diesem Buch korrespondierte, schrieb mir in einem Brief etwas, was mir nach der Diagnose unendlich geholfen hätte:
Ich glaube, dass es letztlich tröstlicher ist, ein Kind nach der Geburt in den Armen zu halten und beim Sterben zu begleiten, als es mit Gewalt am Leben und Sterben zu hindern – indem man es vorzeitig herausholt. Es gibt Dinge, die kann man nicht machen, sondern nur geschehen lassen und – aktiv – erleiden. Das bedeutet aber auch, dem Geschehen und Erleiden Raum zu geben, also das anzunehmen, was kommt und was man nicht in der Hand hat. Und dann gibt es in diesem Erleiden auch tröstliche Momente, etwas zu tun. Das Schwere und Unabwendbare anzunehmen, der Trauer Raum zu geben, es irgendwie gut zu leben, es irgendwie gut hinzukriegen in gegenseitiger Anteilnahme und Unterstützung.
Es ist noch nicht lange her, da haben Klaus und ich einen Sonntagsspaziergang über einen der größten Friedhöfe unserer Stadt gemacht. Wir wollten zu einem dahinter liegenden Naturschutzgebiet und wählten einen Weg durch den parkartigen Friedhof mit den großen alten Bäumen, um von der verkehrsreichen Straße wegzukommen.
Schon von fern fielen mir in einem Randgebiet des Friedhofs zwischen kleinen Holzkreuzen bunte Windräder und farbige Stoffbänder auf, mit denen der Wind spielte. Als wir näher kamen, entdeckten wir neben Blumen und Grabkerzen auch kleines Spielzeug, Püppchen und Clowns auf den Gräbern.
Auf den Holzkreuzen standen hier und da nur Vornamen, sogar solche, die kein Standesbeamter akzeptieren würde. Pünktchen, zum Beispiel. Auch Zwillingsnamen waren darunter. Oft erschien dasselbe Datum gleich zweimal auf den Inschriften, einmal mit einem Stern und einmal mit einem Kreuz. Geboren. Gestorben. An einem Tag. Kindergräber.
Es gab Holztafeln, die ähnlich aussahen wie Wegkreuze oder Bildstöcke, jedoch kaum kniehoch. Jede Tafel trug ein Datum und den Namen einer Klinik. Auch den der Frauenklinik, in der ich mit Leon gelegen hatte. Eins der Krankenhäuser hatte kein Datum auf die Tafel gesetzt, sondern nur ein Wort: Sternenkinder.
Selbst da, wo mehrere Jahre seit dem Kindstod vergangen waren, hatten Menschen noch kürzlich die Grabstelle geschmückt. Es gab eine Holzscheibe in Form eines Sterns, in die jemand liebevoll den Namen eines Jungen gebrannt hatte – vielleicht ein Geschwisterkind – mit einem kleinen Lötkolben oder mit einer erhitzten dicken Nadel. Die ersten Beisetzungen waren aus dem Jahr nach Leons Tod.
Warum, rätselte ich, warum begannen sie gerade in dieser Zeit? Warum weniger als ein Jahr nach meinem Gespräch mit dem Mann aus dem Bestattungsunternehmen, den ich von der Klinik aus angerufen hatte. Als Leon noch in meinem Bauch war, verurteilt zum Tod durch Abtreibung.
Dann fiel es mir plötzlich wieder ein. »Infektiöser Müll. Abfallfirma verarbeitete Totgeburten zu Straßenbelag.« Der Artikel, den ich kurz nach dem Schwangerschaftsabbruch zufällig in der Zeitung gelesen hatte.
»Was geschieht mit Totgeburten im Krankenhaus?«, hatte Viola Roggenkamp von der Zeit nach den ersten Meldungen gefragt und erfahren, dass »Feten unter tausend Gramm wie jedes menschliche Material von der Pathologie entsorgt werden, so wie Gewebereste, amputierte Körperteile und entfernte innere Organe bis hin zu Teilen von Aborten sowie Fehlgeburten. Sondermüll.« 121
Das Entsetzen, das diese Artikel in der Presse erregt hatten, war offenbar erforderlich, um einen würdevollen, menschlichen Umgang mit den toten Kindern und mit dem Leid der Eltern zu erzwingen. Erst nachdem der Skandal öffentlich geworden war, wurde auf dem Friedhof ein eigener Platz für Totgeburten eingerichtet. Seitdem gibt es Einzelgrabstellen oder auch Sammelurnen aus Kliniken mit der Asche von Kindern, die die Schwangerschaft nicht überlebt haben.
Nicht – wie bei mir – eine auf dem Klinikflur geflüsterte Botschaft über das Recht, mein Kind bestatten zu lassen. Keine heimliche Aufforderung: »Setzen Sie sich durch!«
Stattdessen gibt es nun ein selbstverständliches Angebot an Eltern, deren Kind im Mutterleib oder kurz nach der Geburt gestorben ist, gibt es einen
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