Mein grosser Bruder
die ich verfügte – leider war es trotzdem jämmerlich wenig.
„Das ist Schminke“, sagte ich forsch. Ich hatte dabei das gleiche Gefühl wie damals, als ich springen lernte, mich zum ersten Male mit dem Mut der Verzweiflung vom Sprungbrett abstieß und einen donnernden Bauchklatscher hinlegte. – Jetzt nahm ich einen erneuten Anlauf: „Ich habe eine Stellung bekommen, verstehst du, Johannes, ich gehöre zu der arbeitenden Klasse, hahaha.“
Mein Lachen klang beinahe wie Begräbnismusik.
„Eine Stellung? Was meinst du damit?“
„Eine Stellung für zehn Kronen am Abend. Beim Theater.“
Johannes legte den Eierlöffel nieder.
„Das erkläre bitte genauer!“
„Sieh mich nicht so böse an, Johannes. Es ist keine Spur sensationell. Ich tanze hinter einer Glaswand fünf Minuten lang, und nachher laufe ich mit einem Ball über die Bühne, das ist alles, und dafür kassiere ich zehn Kronen am Abend.“
Johannes wurde flammend rot und bekam den Ausdruck, den ich nur ein einziges Mal an ihm gesehen hatte. Das einzige Mal, als er die Beherrschung verloren hatte. Damals, als sich die denkwürdige Sache mit der Haarbürste zutrug.
Ich fühlte mich, gelinde gesagt, nicht wohl in meiner Haut. Einen Augenblick war ich drauf und dran, davonzulaufen, aus Angst vor einer Wiederholung.
Aber ich blieb und versuchte, Johannes’ Blick offen und freimütig zu erwidern.
„Zum Kuckuck, was meinst du damit? Soll das heißen, daß du als Statistin auftrittst? Wozu brauchst du denn Geld? Glaubst du, ich bin nicht Manns genug, dir diese zehn Kronen am Tag zu verschaffen, wenn du sie absolut haben mußt?“
„Beruhige dich doch, Johannes. Du kannst dir wohl denken, daß ich es nicht nur tue, um Geld zu verdienen. Es ist so lustig, ein bißchen Abwechslung zu haben, eine Beschäftigung, zu der man gehen und bei der man Menschen treffen kann. Sei nett und habe Verständnis dafür, Johannes.“
„Du hättest doch aber auch etwas anderes finden können, als ausgerechnet Statistin zu werden.“
„Die Art, wie Johannes „Statistin“ aussprach und betonte, hätte jeden Statisten rot sehen lassen.
„Nein – das konnte ich nicht, denn tagsüber bin ich damit beschäftigt, für dich den Haushalt zu besorgen. Aber am Abend bin ich frei. Was weißt du von Statistenarbeit, Johannes? Ich kann dir sagen, daß die Statisten zum größten Teil ehrsame, fleißige Menschen sind, die am Tag eine Stellung haben oder studieren.“
Ich hörte selbst, daß meine Stimme plötzlich sicherer wurde. Dank Torsten. Er war es, der im Vordergrund meines Bewußtseins auftauchte, als ich „studieren“ sagte. Damit gewann ich vollends die Selbstsicherheit, die ich so sehr brauchte. Denn ich hatte das erlebt, was einer Frau größere Sicherheit gibt, als Tüchtigkeit, Lob, ehrenvoller Leumund und wohlausgeführte Pflichten es vermögen: Ein Mann hatte mir reizende Dinge zugeflüstert, und ein Mann hatte mich geküßt.
Ich redete weiter, erklärte, daß es eine Arbeit war, ebenso rechtschaffen und ebenso notwendig wie jede andere. Johannes liebte es doch selbst, ins Theater zu gehen, und wer sollte denn dort die Statistenarbeit ausführen, wenn alle so dächten wie er? Und ich schloß mit der Frage, ob er vielleicht kein Vertrauen zu mir hätte und mir diese unschuldige Freude nicht gönnte.
Johannes nahm seinen Eierlöffel wieder auf und setzte sein unterbrochenes Frühstück fort. Es dauerte eine kleine Weile, ehe er antwortete.
„Du hast mich also an diesen Abenden belogen, Vivi. Warum hast du mir nicht gesagt, was du vorhast?“
„Lieber Himmel, Johannes, weil ich bange war. Kurz und gut: ich hatte Angst. Du bist strenger mit mir als irgendein Vater mit seiner minderjährigen Tochter. Du nimmst alles so gräßlich schwer. Wenn du dich nur auf die Kunst verstündest, Kleinigkeiten Kleinigkeiten sein zu lassen – wenn du mich anlächeln und sagen könntest: ,Ach du kleiner Rappelkopf’, statt ein schrecklich ernsthaftes Gesicht aufzusetzen und lauter salbungsvolle Sachen zu sagen! Meine Lebensfreude ist wie ein Löwenzahn, Johannes. Wenn sie tatsächlich blüht in der kargen Erde, die du ihr gibst, dann nur, weil sie ebenso zäh ist wie ein Löwenzahn an einer staubigen Wegkante.“
Da – o Wunder – lächelte Johannes.
„Und nun bist du ins Theater geflüchtet, um dort dem Löwenzahn den milden Sommerregen zu verschaffen, den er nötig hat, um nicht in der kargen Erde zu Hause zu verwelken?“
Ich sah meinen Bruder mit offenem
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