Mein grosser Bruder
Kriegsbemalung entfernte. Je besser die Laune, desto mehr Rot legte sie auf ihren Mund, behauptete sie selbst. Weil sie an diesem Tag drei phantastisch gute Kritiken bekommen hatte, war ihr Mund um mehrere Nuancen zu rot für einen braven, bürgerlichen Mittagstisch.
Ich selbst war die Adrettheit in Person, in einem hübschen blauen Kleid, mit etwas Weiß am Hals. Natürlich war es die reinste Koketterie von mir, daß ich mir eines meiner süßesten Schürzchen umband, ehe ich die Tür aufmachen ging.
Der Gast mochte einige Jahre älter sein als Johannes, ein gewandter Großstädter, der mit einer leichten Verbeugung und einigen höflich-witzigen Worten Blumen für „die bezaubernde kleine Wirtin des Hauses“ überreichte. Johannes sah etwas verwundert aus, als er Elsa erblickte; aber ich griff sofort ein und stellte den Gast vor – Direktor Bentsen –, und der wandte sich lächelnd an Johannes.
„Sie haben aber wirklich Dusel, Kruse. Haben Sie jeden Tag solche charmante Tischgesellschaft? Da kann ich ja auch gleich zu Ihrem gestrigen Erfolg gratulieren, Fräulein Semming. Warum haben Sie es mir nicht vorher gesagt, daß ich den Star des Tages bei Ihnen treffen würde, Kruse?“
„Der Star des Tages“ lächelte so süß, wie nur Elsa lächeln kann. „Der Arme, er wußte es ja nicht“, sagte sie. Sie wandte sich an Johannes. „Du erkennst mich wohl beinahe nicht wieder, nach all diesen Jahren, Johannes? Bin ich nicht groß geworden? Aber du bist ganz unverändert.“
Es ging ein erstaunter kleiner Zug über Johannes’ Gesicht. Er hatte sicher nicht viele Worte mit Elsa gewechselt, damals, als sie ab und zu bei uns gewesen war. Aber die wenigen Worte, die damals gewechselt wurden, waren per du gewechselt, so war es ganz in Ordnung und sehr nett, daß Elsa beim „Du“ blieb.
Wir gingen zu Tisch, das Essen war wohlgelungen und die Stimmung ausgezeichnet. Zum Glück hatten Elsa und Direktor Bentsen erheblich mehr Erfahrung als Gäste als Johannes und ich als Gastgeber. Es war ausschließlich ihr Verdienst, daß die Mahlzeit so glänzend verlief. Lebhafte Fragen und Antworten, ein paar Witze, das Gespräch geriet nie ins Stocken. Ich vergaß meine Wirtinnennervosität und amüsierte mich köstlich. Selbst Johannes taute auf und wurde lebhafter, als ich ihn je gesehen hatte.
Später beim Kaffee erzählte Elsa bunt durcheinander von ihrer Theaterzeit in Schweden, erwähnte auch einen Brief von einer Kollegin, die durch ihre Heirat in Südafrika gelandet war, und holte einen Brief aus ihrer Handtasche. Johannes’ Augen hingen an dem Umschlag. „Sammelst du Briefmarken, Elsa? Könnte ich vielleicht…“
„Na klar! Ich sammle doch nichts außer Kritiken, das heißt natürlich die guten. Bitte, nimm nur den ganzen Umschlag. Ich werde nachsehen, ob ich mehr von diesem Zeug zu Hause habe, dann kannst du sie kriegen.“
„Sind Sie auch Sammler, Kruse?“ Direktor Bentsens Stimme verriet lebhaftes Interesse. „Das ist ja nett. Dann kommen Sie wohl am siebten Dezember nach Oslo?“
„Am siebten Dezember?“
„Ja, zu der Weihnachtstagung der Philatelisten.“
„Nein, ich bin nicht Mitglied des Vereins.“
„Ja, aber Mann, warum sind Sie denn das nicht? Das ist doch die halbe Freude beim Briefmarkensammeln. Haben Sie eine gute Sammlung?“
Wie der Wind war ich beim Schreibtisch und holte die drei schönen Alben von Johannes vor. Direktor Bentsen besah sie mit Kennerblick.
„Kruzitürken, diese Porträtsammlung ist ja die reinste Prämienarbeit! Haben Sie noch nie ausgestellt?“ Bentsen hatte gerade Johannes’ Lieblingsalbum vor sich, eine Sammlung von Porträts aus den skandinavischen Ländern. Unter jeder Marke stand in Johannes’ zierlicher Schrift eine Biographie der Person auf der Briefmarke.
Bentsen blätterte feierlich alle drei Alben durch und war so vertieft, wie es nur der wahre Philatelist sein kann. Ich starrte gespannt und schweigend auf ihn. Ob er es wohl fertigbringen könnte, Johannes aufzupulvern und ihn mit Hilfe dieser Marken in die Gesellschaft anderer Menschen zu lotsen?
„Melden Sie sich gleich morgen beim Philatelistenverein an“, sagte Bentsen mit großer Bestimmtheit, als er die Alben durchblättert hatte. „Und selbstverständlich kommen Sie zu der Weihnachtstagung. Es wird ein sehr interessanter Vortrag gehalten, das kann ich Ihnen versprechen. Und nachher Tanz. Das Schwesterchen kommt mit, nicht wahr?“
„Schwesterchen kann leider nicht“, sagte ich. „Ich
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