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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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was würde mir das nützen? Mein Leben ist sowieso zerstört.«
    »Das Leben, das Sie kannten, ist zu Ende, aber Sie sind lebendig und jung, Sie wissen nicht, wie viele Horizonte sich noch vor Ihnen auftun können.«
    »Mein Horizont war Nora, mein Horizont war Davide.«
    »Aber Nora ist doch bei Ihnen und Ihr Kind auch. Die Macht der Liebe überwindet die Zerbrechlichkeit unseres Zustands.«
    Schweigend gingen wir weiter.
    Ein Teil von mir wollte schreien: »Das glaube ich nicht! Sie sind in diesem Feuer, sie sind in diesen armen Knochenresten«, während der andere Teil sagte: »Was machen Sie jetzt, versuchen Sie, mich zu trösten?«
    »Es gibt keinen menschlichen Trost für das, was Sie durchgemacht haben. Das wäre, als wollte man eine klaffende Wunde mit einem Pflaster heilen.«
    »Also, was nutzt dann Ihr Geschwätz?«
    »Geschwätz nutzt nie etwas.«
    Wir hatten die Runde beendet und standen wieder vor dem Haus meiner Eltern. »Denken Sie an das Lamm«, sagte Don Marco zum Abschied zu mir. »Die unschuldigen Toten trägt das Lamm alle auf seinen Schultern.«

15
    In den ersten Jahren hier oben habe ich in absoluter Einsamkeit gelebt. Wenn ein Wanderer die Absicht zeigte zu rasten, gab ich ihm zu verstehen, dass es nicht erwünscht sei. Den physischen Raum gab es – ein Stockbett in dem Kämmerchen hinter der Küche –, was fehlte, war der Raum in meinem Herzen. Ich war auf dem Weg der Genesung, meine Wunden waren gerade erst vernarbt, eine abrupte Bewegung hätte genügt, um sie wieder aufzureißen. Deshalb musste ich mich still und stumm in meiner schützenden Höhle verkriechen, um wieder zu Kräften zu kommen. Mit der Zeit änderten sich die Dinge, die Stille mit ihrer wundertätigen Kraft weckte allmählich wieder den Wunsch in mir, anderen Menschen zu begegnen.
    Wenn jetzt jemand ein paar Tage hier einkehren will, nehme ich ihn gerne auf. Manche mögen meine Lebensart sofort, andere dagegen wünschen sie sich, halten aber nur wenige Stunden aus. Mit von Schlaf und Beunruhigung gezeichneten Augen teilen sie mir mit, plötzliche Verpflichtungen zwängen sie, wieder aufzubrechen.
    Natürlich weiß ich, dass ihre einzige wahre Verpflichtung die Angst ist, jenes Gefühl von Unsicherheit und Ungewissheit, durch das sie sich hier in der Einsamkeit plötzlich ihrem eigenen Leben entfremdet fühlen. Plötzlich sehen sie sich, und da sie nicht recht wissen, wer sie sind, fürchten sie sich. Deswegen müssen sie zurückeilen, sich ins spiegelnde Getümmel stürzen, müssen lachen, tanzen, zusammen mit den anderen Lärm machen, das Gespenst auslöschen, das sie mit seinem Blick voller Fragen verfolgt: ›Wer bist du?‹ ›Geh weg! Reiße mich nicht aus der Betäubung, in der ich meine Tage vergeude.‹
    In der ersten Zeit unseres gemeinsamen Lebens verwunderte mich eine Gewohnheit von dir, die ich nicht kannte – jeden Morgen nach dem Frühstück zogst du dich ins Schlafzimmer zurück und wolltest dort eine halbe Stunde nicht gestört werden. Anfangs hänselte ich dich: »Bestimmt legst du dich noch einmal hin und schläfst.« Anstatt mir zu antworten, sahst du mich mit einem Lächeln an, das rätselhafter war als das der Mona Lisa.
    Dann wurde ich eifersüchtig – wie war es möglich, dass es etwas gab, das du nicht mit mir teilen wolltest, aus welchem Grund musste ich immer an der Schwelle zurückbleiben? Ich versuchte auch, dich mit praktischen Ausreden abzulenken. »Wir sind hiermit oder damit im Verzug … es ist zu unordentlich … Wir sind schon zu spät dran, wie kannst du da noch mehr Zeit vergeuden?«
    »Wer sagt dir denn, dass ich sie vergeude?«, antwortetest du unbeirrbar, indem du leise die Tür hinter dir zumachtest.
    Nur einmal, bei einer Bergwanderung auf der Maiella, spieltest du kurz darauf an. Wir saßen auf dem Gipfelplateau, Davide war noch nicht geboren, und auf einmal zeigtest du auf das blaue Glitzern des Meeres vor uns, die Wolken am Himmel und die Felsen, die uns umgaben. »Siehst du, wenn man mit dem Ewigen spricht, vergeudet man nie seine Zeit.«
    Während ich die Verpflegung aus dem Rucksack holte, ließest du dich mit einem glücklichen Seufzer nach hinten fallen, um mit Blick auf den Himmel eines deiner Lieblingsgedichte zu zitieren:
    Ich glaube, ein Grasblatt ist nicht geringer als das Tagwerk der Sterne,
    Und die Emse ist ebenso vollkommen, und ein Sandkorn und das Ei des Zaunkönigs,
    Und die Baumkröte ist ein Chef-d’œuvre vordem Höchsten,
    Und die rankende

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