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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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Brombeere würde die Vorhallen des Himmels schmücken,
    Und das schmalste Gelenk meiner Hand spottet aller Maschinen,
    Und die Kuh, die mit gesenktem Kopf käut, übertrifft alle Standbilder,
    Und eine Maus ist Wunders genug, Sextillionen von Ungläubigen wankend zu machen.
    Die Worte hingen noch eine Weile in der Luft, dann aßen wir schweigend, begleitet vom Sausen des Windes.
    Erst auf dem Rückweg wurde der Zauber gebrochen, als plötzlich in der Stille des Buchenhains eine Motorsäge kreischte.
    Das Buch von Walt Whitman ist eines der wenigen Dinge von dir, die ich mit hier heraufgebracht habe, unterdessen ist es vergilbt, viele Seiten sind abgegriffen – denn du liebtest es, Gedichte auswendig zu lernen. »Ich will eine ganze Bibliothek im Kopf haben«, wiederholtest du oft, während du übtest, »sonst lasse ich mich zuletzt noch davon überzeugen, dass die Welt nur aus Schlafen, Essen, Vögeln und Sterben besteht.«
    »Und was ist daran schlecht? Machen wir das nicht auch alles?«, fragte ich dich.
    »Was das angeht, so machen es auch die Hunde, die Amseln, die Orang-Utans. Von den Reptilien aufwärts ist jedes Leben eintönig.«
    »Ja, und das heißt?«
    »Also müssen wir lernen, das Filigrane zu sehen, das, was sich im geheimsten Teil der Tage verbirgt.«
    »Und für die Hunde ist es nicht so?«
    »Die Hunde brauchen es nicht. Genauso wenig wie die Grashalme, die Zaunkönige oder die Baumkröten. Sie alle leben sowieso im Fluss der Weisheit. Nur wir müssen noch danach suchen.«
    In all den Jahren unserer Beziehung habe ich mich nie gefragt, was du wohl an mir fändest – du liebtest mich, ich liebte dich, und das machte jede weitere Frage überflüssig. Auch als der Schmerz noch außerordentlich lebendig war, habe ich es mich nicht gefragt, das Beil hatte mich gespalten, aber die Hälfte, die fehlte, war immer noch ein Teil von mir. Fragen tauchten erst auf, als der Sturm sich zu legen begann und das Meer sich in einen See verwandelte. Wenn ich mich spiegelte, sah ich die Algen träge schwanken, und zwischen den Algen erschien mein Gesicht – ein erstauntes Gesicht, es gab so viele Dinge, die ich verstehen wollte.
    Du sprachst mit dem Ewigen, und ich?
    Ich war ein langweiliger, vorhersehbarer Ehemann ohne den geringsten Geistesblitz. Ich dachte an meine Arbeit, an die praktischen Dinge, an die Hypothek, die ich aufnehmen wollte, um eine Wohnung zu kaufen, und an die Hausversammlungen, in denen ich mich streiten musste. Die ersten Jahre arbeitete ich in der Notaufnahme, und dieses tägliche Eintauchen in den Schmerz hielt mich von jeder Art von Poesie fern. Ich war dir dankbar für das, was du mir botest – nach Hause zu kommen war wie Balsam, doch von mir aus hätte ich nicht auch nur einen einzigen Vers schätzen können. Wenn du nicht gewesen wärst, hätte ich mich wahrscheinlich mit einem Glas Whisky aufs Sofa fallen lassen.
    Als ich dann nur noch als Kardiologe arbeitete, verengte sich mein Horizont noch weiter. Ich eilte hierhin und dorthin, um Fortbildungen und Tagungen zu besuchen – in jenen Jahren entwickelte sich die Technologie auf meinem Gebiet in Riesenschritten. Manchmal kehrte ich richtig euphorisch zurück und schilderte dir bei Tisch haarklein die außerordentlichen diagnostischen Vorzüge des neuesten Apparats oder mit welcher Routine man inzwischen kranke Herzklappen durch künstliche oder von Tieren stammende ersetzte. Du warst neugierig und hörtest mit großem Interesse zu. Eines Abends fragtest du mich, von welchem Tier denn das Gewebe für die Herzklappen stamme. »Vom Schwein«, antwortete ich. »Es besteht eine große Affinität zwischen Schwein und Mensch, und deshalb gibt es weniger Abstoßungsprobleme.«
    Du fingst an zu lachen. »Also sind wir keine Affen, sondern Schweine, und das hier« – du strichst mir über den Arm – »sind vermutlich keine Härchen, sondern Borsten …«
    Daraufhin begann ich zu grunzen, während Davide in seinem Kinderstühlchen begeistert in die Hände klatschte. Er liebte die Tiere vom Bauernhof. So musste ich nach dem Schwein auch den Hahn machen und nach dem Hahn den Hund und die Katze. Dir waren Kuh und Kaninchen zugefallen, und danach, beim Piepsen des Kükens, war es dir gelungen, Davide den Mund aufsperren zu lassen und einen Löffel voll Grießbrei hineinschweben zu lassen, der auf dem Teller kalt wurde.
    Später, als Davide schon schlief und wir uns auf dem Sofa entspannten, hast du dich zu mir gedreht und gefragt: »Meinst

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