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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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streichelte ihr sanft den Kopf – sie dankte ihm mit einem anbetenden Blick. Ein Schlepper fuhr gerade in den Hafen ein.
    »Du enttäuschst mich«, sagte er dann, »du enttäuschst mich zutiefst.«

19
    Vergangenen Sommer kam ein Mädchen hier herauf. Sie stammte aus einer großen Stadt im Norden, war sehr lebhaft, sehr begeistert und hatte sehr klare Vorstellungen vom Leben. Sie studierte Psychologie, stand kurz vor dem Abschluss und konnte es kaum erwarten, Examen zu machen, um endlich anderen Menschen nützlich zu sein. Geduldig half sie mir, die Karottenpflänzchen auszudünnen, dann setzten wir uns und tranken von dem Holundersaft, den ich vor Kurzem gemacht hatte. Sie war neugierig und versuchte nicht, es zu verbergen – irgendwann faltete sie die Hände unter dem Kinn und sagte: »Ich verstehe es nicht. Es ist mir einfach unbegreiflich. Sie haben Ihren Arztberuf an den Nagel gehängt, dabei könnten Sie doch einer Menge Leute helfen … Wenn Sie das alles hier satthatten, hätten Sie doch nach Afrika, nach Indien gehen können, anstatt hier oben zu leben wie Robinson Crusoe. Ist das nicht eine extrem egoistische Entscheidung? Was nützt es – wem nützt es, dass Sie auf diesem Berg sitzen?«
    Eine Wespe balancierte wie ein Seiltänzer auf dem Rand meines Glases. Mit einem Stöckchen habe ich sie entfernt. »Vielleicht sind die Dinge, die zu nichts nützen, am wichtigsten.«
    Elena, so hieß sie, schüttelte ratlos den Kopf. »Es gibt so viele Menschen, die leiden. Wie können Sie da taub bleiben?«
    »Wer sagt denn, dass ich taub dafür bin?«
    »Aber wie können Sie es dann hier aushalten, warum gehen Sie nicht in Ihren Beruf zurück und stürzen sich wieder ins Getümmel? Sie könnten eine Menge Leute heilen …«
    »Heilen?«
    »Ja, heilen. Sie werden doch Menschen behandelt haben, als Sie Arzt waren, oder?«
    Ich hätte ihr antworten müssen, dass »heilen« und »etwas, das nicht funktioniert, reparieren« zwei äußerst verschiedene Dinge sind, doch ihre Naivität rührte mich, deshalb sagte ich: »Selbstverständlich, ich habe eine Menge Herzen wieder in Ordnung gebracht.«
    »Ja und? Warum machen Sie nicht weiter?«
    Die Sonne sank allmählich am Horizont. Ich trank meinen Holundersaft aus. »Die Schafe müssen hereingeholt werden«, sagte ich und ging auf das Plateau zu, wo sie weideten. Elena folgte mir. Auf mein Rufen und Händeklatschen begannen die Schafe sofort, in einer Reihe auf ihren Stall zuzutrotten.
    »Die gehorchen aber gut!«, bemerkte Elena. »Haben Sie sie dressiert?«
    »Nein«, erwiderte ich. »Sie folgen ihrem Instinkt.«
    »Aber es ist doch Sommer, die Luft ist warm. Glauben Sie nicht, die Tiere wären glücklicher, unter freiem Himmel zu schlafen?«
    Ich musste lachen. »Nein, das glaube ich überhaupt nicht.« Am nächsten Tag machte sich Elena auf den Rückweg, ohne je ihr Lächeln verloren zu haben. Als ich im folgenden Frühling zum Postamt hinunterstieg, fand ich unter anderem einen Brief von ihr, in dem sie mir ihren Abschluss – summa cum laude – und eine Reihe von Plänen mitteilte, die sie demnächst in Angriff nehmen wollte. Ich verstehe Sie nicht, aber ich mag Sie trotzdem , hatte sie unten auf das Blatt geschrieben.
    Sogar in ihrer Schrift drückte sich ihr lebensfrohes, sonniges Wesen aus – unfähig, den Schatten zu sehen. Würde sie sich im Lauf des Lebens ändern? Oder würde das Böse irgendwann auch in ihrem Leben zuschlagen? Würde auch sie gespalten, würde sie zerbrechen, in tausend Stücke zerspringen und so eines Tages gezwungen sein, die Bruchstücke aufzusammeln und zu versuchen, sie wieder zusammenzusetzen? Wie lange würde sie noch glauben können, dass es möglich sei, Schafe und Lämmer im Freien schlafen zu lassen? Wie lange würde sie noch darüber hinwegsehen können, dass die Nacht von Wölfen, Füchsen und wilden Hunden bevölkert ist und man nur dann gesund wird, wenn es einem gelingt, diese Raubtiere zu besiegen?
    An dem Tag, als mein Vater zu mir sagte: »Du hast mich enttäuscht«, schämte ich mich, aber nur kurz. Während ich im Auto nach Rom zurückfuhr, dachte ich, welch ein Glück, dass ich weit weg lebte – am Telefon konnte ich lügen, Zeit schinden, während ich mich bemühte, mich zu bessern. Natürlich war ich voller guter Vorsätze. Morgen stehe ich früh auf, sagte ich mir, anstatt einen Kaffee mit Schuss zu trinken, mache ich einen langen Spaziergang – ich kaufte mir sogar Laufschuhe, aber sie blieben unberührt

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