Mein Herz ruft deinen Namen
Stückchen buntes Papier aus den Haaren genommen, dann hat sie mit einem Augenzwinkern gesagt: »Wir haben uns wohl amüsiert gestern Abend …«
In Wirklichkeit hatte ich endlich den Mut aufgebracht, vom Sprungbrett zu springen – mit ausgestreckten Armen und angespannten Muskeln flog ich kopfüber auf den Abgrund zu.
18
Was soll ich zu jenen Jahren sagen? Wie darüber sprechen, ohne tiefe Scham zu empfinden? Der goldene Faden, der mich mit dir verbunden hatte, war nun gerissen, es gab niemanden mehr, dem ich über meine Taten Rechenschaft ablegen musste – niemanden, für den meine Taten einen Sinn hatten. Nach der Tragödie hatte meine Mutter zu schrumpfen begonnen, ihre autoritäre Art machte einem stillen Schweigen Platz. Die meiste Zeit saß sie strickend vor dem Fernseher. Genau am Tag seines Todes hatte sie einen Pullover für Davide fertig gestrickt – und diesen Pullover trennte sie nun immer wieder auf und strickte ihn neu. Ab und zu kaufte sie noch ein Knäuel Wolle derselben Farbe und ging zur nächsten Größe über. »Wie er wächst!«, sagte sie, wenn ich zu Besuch kam. »So schnell ich auch stricke, ich komme gar nicht hinterher.«
Die Reaktion meines Vaters dagegen bestand darin, sich noch einmal ins Leben zu stürzen. Dank der Freundschaft zu einem jungen Mann hatte er endlich den Mut gefunden, sich an der juristischen Fakultät einzuschreiben. Er nahm die Vorlesungen auf Kassette auf und hörte sie dann in der Küche bis spät in die Nacht ab. Die Gerechtigkeit wurde zu seiner fixen Idee. Er war überzeugt, dass er schon mit der Tragödie seiner Kindheit seinen Tribut an den Schmerz entrichtet hatte. Als zu seiner Tragödie jedoch die meine hinzukam, geriet sein berühmtes Motto – »Man muss sich damit abfinden« – ins Wanken. Da ihm in der Dunkelheit seiner Tage der Verantwortliche keine Antwort gegeben hatte, suchte er Erleichterung in dem, was die Menschen geschrieben hatten. Sich zwischen Spitzfindigkeiten und Sophismen einen Weg zu bahnen wurde zu seiner Art, die Angst zu bannen. Am Abend, wenn ich zu Besuch war, erklärte er mir stundenlang die Feinheiten des Römischen Rechts. »Es ist wie ein gut geschliffener Diamant«, wiederholte er häufig, »wie du ihn auch drehst und wendest, du findest überall absolute Perfektion und Licht, ein Licht, das auch die verwickeltsten Fragen erhellen kann.«
Zwei Jahre danach stolperte meine Mutter und fiel der Länge nach aufs Trottoir, während ich auf der Straße neben ihr ging. Sie war über nichts gestolpert. Als ich sie aufhob, wurde mir bewusst, wie leicht sie geworden war – der Schmerz hatte sie ausgedörrt, ohne dass wir es gemerkt hatten, kaum mehr als die Knochen waren noch übrig. Und diese Knochen – das entdeckten wir wenig später – waren schon gänzlich ausgehöhlt. Wenn man Holz zu lange im Schuppen liegen lässt, trocknet es aus, wird zur Nahrungsquelle für eine Menge Insekten – du nimmst ein Scheit in die Hand und entdeckst staunend, dass es so viel wiegt wie ein Zweig. Das Gleiche war meiner Mutter passiert. Solange das Leben im entschiedenen Rhythmus der Natur vorangeschritten war – die Kinder, die Enkel und, wer weiß, eines Tages vielleicht noch Urenkel –, war sie standhaft wie eine Eiche. Als dann die Axt des Unglücks zuschlug, verwandelte sich die Kraft in äußerste Schwäche; die Lymphe zog sich zurück – in den Ritzen der Rinde siedelten sich Pilze an, Bakterien, Käferlarven und arbeiteten emsig im Dunklen in aller Stille, bis sie die solide Struktur in einen Haufen feinstes Sägemehl verwandelt hatten.
Der Knochentumor war schon im fortgeschrittenen Stadium. Statt sie meinen Kollegen in die Hände zu geben, zog ich es vor, sie zu Hause von einer Krankenschwester und meinem Vater pflegen zu lassen. Nach einem Monat war sie tot. Am Tag der Beerdigung fand ich in der Tasche ihres Morgenrocks einen Zettel. In zittrigen Buchstaben stand darauf mit Bleistift geschrieben: Ich hätte nicht geglaubt, dass der Gedanke an den Tod so tröstlich sein kann.
Ich schlug meinem Vater vor, zu mir nach Rom zu ziehen, doch er schüttelte den Kopf: »Das geht nicht, ich habe hier meine Studien, und außerdem würde ich dir nur zur Last fallen. Ich kenne die Wohnung nicht, ich kenne die Straßen nicht, ich kenne niemanden.«
»Du wirst mir nie eine Last sein.« Doch er schüttelte weiter den Kopf.
Vor meiner Abreise jedoch ging ich ins Tierheim und wählte eine Mischlingshündin für ihn aus, die einen
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