Mein Herz ruft deinen Namen
müssen, und Matteo war damals nirgends. Wer war Matteo? Ich wusste es nicht mehr. Meine Vorstellungskraft war nicht so hoch entwickelt, dass sie dich in einer anderen Form hätte spüren können. So durchlebte ich immer wieder mein Leben bis zu jenem Punkt und fragte mich dabei: Was habe ich Böses getan? Aus welchem Grund hat mich das Schicksal so schrecklich bestraft? Ich war ein guter Sohn, ein gewissenhafter Arzt, ein liebender Ehemann und ein zärtlicher Vater, nie habe ich jemandem etwas Böses getan. Welchen Sinn hatte es dann, gerecht, freundlich, korrekt und liebevoll zu sein?
Die schmerzliche Verwirrung der ersten Zeit verwandelte sich allmählich in ein gewinnbringendes Syndrom – das des Opfers. Die Erinnerungen an unser Leben – die Gesichter, die Gerüche, die Worte – waren hinter den Kulissen verschwunden, und auf der Bühne hatte sich an ihrer Stelle wie ein Monolith die Darstellung meines Schmerzes als Überlebender breitgemacht. Ich war noch jung, recht ansehnlich, ein guter Arzt und trug die Last einer biblischen Tragödie auf meinen Schultern. Die Freundinnen und Kolleginnen, die es kaum erwarten konnten, mich zu trösten, scharten sich um mich, doch hinter ihrem humanitären Impuls stand vielleicht noch ein menschlicheres Interesse – sie waren alle über dreißig, lebten allein, und ihr Körper drängte mit Macht danach, ein Kind zu bekommen. Ich lenkte mich ab, und sie hofften. Auf dieser Schaukel der Gefühle verbrachte ich viele Jahre meines Lebens.
Nach jener ersten Episode mit der Einrichtungsfreundin ließ ich keine Frau mehr in meine Wohnung. Ich schlief bei ihnen und stand dann irgendwann auf, um in die Einsamkeit meiner Höhle zurückzukehren.
Wenn ich an diese Phase zurückdenke, kommen mir häufig die berühmten Verse des Ovid in den Sinn – Was mich verfolgt, das fliehe ich, und was mich flieht, dem folge ich. Dass ich so ungreifbar war, brachte meine nächtlichen Gefährtinnen zur Verzweiflung, der Anrufbeantworter war ständig voll – manche Nachrichten waren schmeichlerisch, andere fragend, wieder andere herrisch. Gelegentlich passierte es, dass sie mir vor der Haustür Szenen machten oder in Tränen aufgelöst am Schichtende im Krankenhaus auf mich warteten. Rasch und fast ohne es zu merken, war ich in eine Welt abgerutscht, die mir bis dahin fremd war – die Welt der Lüge. Ich belog meine Freundinnen, meine Kollegen, meinen Vater, ich belog mich selbst, wenn ich morgens in den Spiegel blickte. Ich wurde immer aufgedunsener, dicker. Beim Aufwachen hatte ich riesige Tränensäcke unter den Augen. Ich werde älter, sagte ich mir, obwohl ich wusste, dass es nicht an den Jahren lag – sondern am Alkohol.
Ich hatte am Gründonnerstag begonnen und nicht mehr aufgehört. Zu Beginn war es der Campari – oft trank ich am Schichtende einen in der Bar im Krankenhaus. Zum Campari gesellte sich der Whisky beim Heimkommen – kaum war ich zur Tür herein, hielt ich schon die Flasche in der Hand; den ersten Schluck trank ich noch im Stehen, den zweiten auf das Sofa gesunken. Als dann nach wenigen Monaten der Barmann morgens fragte: »Mit Schuss?«, lächelte ich: »Na gut, aber nur heute«, obwohl ich wusste, dass jeden Tag »heute« war.
»Drängen Sie Ihn, lassen Sie Ihm keine Ruhe, fordern Sie eine Antwort«, hatte der Pfarrer, der mit meiner Mutter befreundet war, an jenem fernen Abend zu mir gesagt. Aber wen sollte ich fragen? Mein Himmel war leer. Ich war kein Stein, deshalb gelang es der Sonne nicht, mich zu erwärmen. Doch Alkohol machte das Unmögliche möglich. Ich war kein Stein, sondern ein Stromkreis – meine Adern, meine Nerven waren die Kabel, durch die funkensprühend die Elektrizität floss.
Nichts schien mir mehr wichtig zu sein. Die Seiten meines Autos bekamen immer mehr Kratzer. Einmal zeigte ich sogar den Diebstahl meines Autos an, weil ich nicht mehr wusste, wo ich es geparkt hatte. Im Krankenhaus begleitete mich die besorgte Stationsschwester treu wie ein Deutscher Schäferhund – bei der Visite wiederholte sie mir neben jedem Bett mit lauter Stimme die Krankheitsgeschichte und die Behandlung, mit der wir begonnen hatten.
»Du stinkst«, sagte mein Vater zu mir, der mich hereinkommen hörte, als ich ihn einmal in Ancona besuchte. Ich stellte mich sofort unter die Dusche, doch als ich wieder in der Küche erschien, meinte er: »Das war nicht der Gestank, den du abwaschen musstest.« Er setzte sich auf den Balkon, Laika auf dem Schoß, und
Weitere Kostenlose Bücher