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Mein Herz ruft deinen Namen

Mein Herz ruft deinen Namen

Titel: Mein Herz ruft deinen Namen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Tamaro
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in ihrer Schachtel liegen.
    Mein Vater rief häufig an. Die Lügen, die ich ihm auftischte, glaubte er vermutlich keine Sekunde lang. Er rief mich zur Ordnung: »Denk daran, dass du die Verantwortung für viele Leben in der Hand hältst, dich selbst kannst du zugrunde richten, aber deine Aufgabe musst du erfüllen.«
    »Meine Aufgabe ist zu überleben«, brummte ich einmal unwirsch. Auf der anderen Seite herrschte langes Schweigen. »Wenn es so ist«, sagte er dann mit ruhiger Stimme, »bringst du dich am besten gleich um.«
    Einen Monat lang telefonierten wir gar nicht mehr. Dann rief ich ihn eines Sonntagmorgens an. »Es gibt eine Neuigkeit«, verkündete ich. »Ich bin nicht mehr allein.« Deutlich hörte ich in der Leitung seinen Seufzer. »Und wie ist sie?«
    »Viel jünger als ich.«
    »Liebst du sie?«
    »Sie liebt mich.«
    Wo ist das Ende, wenn es abwärtsgeht? Man steigt die Stufen hinab, ist überzeugt, es seien die letzten, doch dann geht es um die Ecke, und man sieht, dass es noch mehr gibt – die Treppe führt in einer Spirale immer weiter nach unten, wie bei einem bodenlosen Brunnen. Wenn ich noch weitergehe – sagt man sich – finde ich vielleicht auf der anderen Seite den Ausgang, schließlich ist die Erde rund, und irgendwo werde ich zuletzt herauskommen. Ab und zu flackert auf dem Weg bergab eine Fackel. Die Flamme beleuchtet die Feuchte der Mauern – man ist dankbar für das bisschen Licht, ergreift sie und trägt sie vor sich her, als ob es der Stern von Bethlehem wäre. Larissa war meine Fackel. Zuerst Fackel, dann glühendes Eisen. Nach dieser Stufe kam eine Mauer. Ich hätte nicht weitergekonnt – sie hat es mir ermöglicht umzukehren.
    Larissa war gerade zwanzig geworden, sie stammte aus einem Bergdorf in Rumänien. Sie wollte, dass es ihr besser geht, wollte Gesang studieren, deshalb war sie nach Italien gekommen. Einstweilen arbeitete sie als Bedienung in einem Lokal in der Nähe des Krankenhauses. An einem regnerischen Abend – ich blieb oft bis spätabends dort – sprang ihr Moped nicht an, also erbot ich mich, sie nach Hause zu fahren. Sie wohnte weit draußen in einem Vorort, und unterwegs unterhielten wir uns. Am nächsten Tag betrachteten wir einander mit anderen Augen, und nach einer Woche, auf einem Spaziergang im Park der Villa Borghese, gestand sie mir ihre Liebe.
    Warum bin ich bei ihren Worten stehen geblieben und habe sie umarmt? Vielleicht wegen ihrer Naivität, weil sie mich rührte, weil ich sie gern beschützen wollte. Und vielleicht auch, weil ich ein Schiffbrüchiger war und weil mich nach all den Geschichten das Wort »Liebe« – die Unschuld, mit der sie es ausgesprochen hatte – glauben machte, das Ufer sei doch nicht so fern.
    »Larissa bedeutet Festung«, sagte sie zu mir, als wir das erste Mal eine Nacht zusammen verbrachten, und ich dachte, dass kein Name je weniger zu diesem Körper eines Vögelchens gepasst hätte. Ihr erlaubte ich, in meinem Bett zu schlafen, barfuß durch die Wohnung zu gehen und dabei ihre Gesangsübungen zu machen. Sie kam aus einer Bauernfamilie, und ich hörte ihr gerne zu – das Leben ihrer Eltern erinnerte mich an das meiner Großeltern. Wie lange schon war diese Welt verschwunden, wie lange schon war das Kind verschwunden, das die staubigen Straßen entlangradelte!
    Als ich ihr zuhörte, empfand ich zum ersten Mal wieder Sehnsucht nach jenen Tagen – und nach dem, der ich in jenen Tagen gewesen war. Ich war geistig wach, neugierig. Ich beobachtete die Wolken und versuchte, das Wesen der Dinge zu ergründen – und wenn ich glaubte, es sei mir gelungen, wie in jener fernen Nacht des heiligen Isodor, senkte sich Friede in mein Herz. Warum hatte ich irgendwann das Geheimnis hinter den Horizont verjagt?
    Es gab dich, und das genügte mir, doch nachdem du verschwunden warst, fand ich mich allein in einer Wohnung voller Spiegel wieder – jeder warf ein anderes Bild von mir zurück, und ich war nicht mehr imstande zu erkennen, welches das echte war. Larissa kam mir vor wie ein Hoffnungsschimmer, ein Anker – der Karabinerhaken, an dem man das Seil befestigen konnte, um den erneuten Aufstieg zu beginnen. Ich liebte sie nicht, das höchste meiner Gefühle für sie war eine Art väterliche Zärtlichkeit. Ich war ihr dankbar für ihre Hingabe – was immer ich brauchte, sie war stets da, um es mir zu reichen. Eines Abends warnte mich ein Kollege, dem ich von meiner neuen Beziehung erzählte: »Amüsiere dich ruhig, aber

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