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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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wenn er deinen Vater zu Gesicht bekam. Deine Großmutter hatte mehr Widerstandskraft, und außerdem hatte sie ihre Tochter nicht tot gesehen, nur begraben. Dein Großvater lebte seitdem, allerdings nicht mehr lange, wie ein zum Tode Verurteilter, der das Datum seiner Hinrichtung nicht kennt und jeden Morgen in der Furcht aufsteht, dass der Tag gekommen ist. Der Vergleich ist nicht ganz richtig, er fürchtete das Ableben seiner Tochter, die ihm geblieben war. Er schlief nicht einmal. Er erschrak jedes Mal, wenn das Telefon oder die Türglocke ertönte oder ein Brief oder ein Telegramm eintraf, und dabei machten deine Eltern keine Hochzeitsreise, die Umstände ließen solche Vergnügungen nicht zu, sie entfernten sich auch kaum von Madrid, solange er lebte. Nie hatte mein Vater, wie er sagte, einen so klaren Fall von Tod aus Angst gesehen wie bei deinem Großvater. Der Infarkt war nur der Ausdruck, das Mittel, es hätte ein anderes sein können, sagte er. Als dein Großvater starb, wurde der Kontakt zwischen unseren Familien selten. Ich nahm ihn mit Ranz dann auf anderen Wegen wieder auf, Jahre später. Na, was sagst du.« In seinem letzten Satz lag Befriedigung, jeder macht gern Tests und kommt mit Neuigkeiten. Der Professor rief einen Kellner herbei und bestellte, seltsamerweise, nachdem er die Torte gegessen hatte, die Käseplatte und noch mehr Wein dazu. »Ich habe Hunger, heute habe ich nicht zu Mittag gegessen«, entschuldigte er sich.
    Luisa und ich waren schon beim Kaffee. Es drängten sich zwei Fragen auf, zwei hauptsächliche Fragen, die schwerlich nicht gestellt werden konnten, da wir außerdem zwei waren, die sie stellen konnten. In Wirklichkeit richteten sich beide Fragen an unseren Vater, aber er war weit weg, und mit ihm sprach man nicht über die ferne Vergangenheit. Oder vielleicht jetzt doch, mir kam plötzlich die unwahrscheinliche Möglichkeit in den Sinn, dass Ranz vor Monaten Custardoy und jetzt Villalobos gesandt hatte, um mich allmählich zu informieren, um mich allmählich auf eine Geschichte vorzubereiten, über die er mich zu unterrichten wünschte, jetzt, vielleicht, weil ich zum ersten Mal geheiratet hatte, er hatte es dreimal getan, und zweimal war es schlecht ausgegangen oder, wie alle seinerzeit gesagt hatten und der Professor gerade wiederholt hatte, er hatte großes Pech gehabt. Aber er hatte mir auch den hohen spanischen Beamten mit der vergnügungssüchtigen und frivolen Frau geschickt, und der hatte mir nichts erzählt. Luisa und ich sprachen fast gleichzeitig:
    »Aber warum hat sie sich umgebracht?«, sagte sie, mir eine halbe Sekunde voraus.
    »Wer war die erste Frau?«, sagte ich verspätet.
    Professor Villalobos nahm sich Brie und Camembert, alles cremig. Er strich ein wenig von Ersterem auf das Toastbrot, das in Stücke brach, als er es zum Mund führte. Ihm blieb ein Stück darin, das zu groß war, um es mit einem Mal hinunterzuschlucken, er befleckte sein Revers, und er befleckte die Tischdecke.
    »Warum sie sich umgebracht hat, weiß man nicht«, antwortete er mit noch nicht ganz leerem Mund, aber in der richtigen Reihenfolge, als sähe er sich im Unterricht einem Ansturm von Zweifeln gegenüber. Er trank ziemlich viel Wein, um das Schlucken zu erleichtern. »Nicht einmal dein Vater wusste es, wie er sagte, das sagte er. Seine Überraschung, als er beim Nachtisch in der Wohnung seines Schwiegervaters eintraf, war so groß wie bei jedem anderen der Anwesenden oder der später Gekommenen, sein Schmerz noch größer. Er sagte, alles sei in bester Ordnung, zwischen ihnen sei nichts vorgefallen, sie seien glücklich und alles. Er konnte es weder sich noch den anderen erklären. Sie hatten sich am Morgen getrennt, ohne dass er etwas Merkwürdiges bemerkt hatte, sie hatten sich mit mehr oder weniger verliebten Sätzen verabschiedet, wie an jedem beliebigen Tag, konventionellen Sätzen, wie ihr sie euch heute Abend oder morgen sagen mögt. Wenn das stimmt, dann muss er sich nicht wenig gequält haben in all diesen Jahrzehnten. Deine Mutter hat ihm wohl sehr geholfen. Vielleicht sah Ranz sich auch gezwungen, nachzuforschen, ob deine Tante Teresa ein Doppelleben führte, dessen selbstmörderische Hälfte er nicht kannte, solche Dinge passieren. Wenn er etwas herausgefunden hat, dann hat er es verschwiegen, nehme ich an. Ich weiß nicht.« Der Professor trocknete sich den Mund, jetzt mit mehr Grund, um seine Mundwinkel von harten Toastbrotkrumen und weichen Brieresten zu

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