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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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daran war dein Vater. Jede Krankheit wird durch etwas verursacht, das
keine
Krankheit ist.« Professor Villalobos liebte nicht nur unübertragbare Geheimnisse, sondern auch kleine Knalleffekte, wenn er etwas erzählte, mochte es geheim sein oder nicht.
    »Schuld war mein Vater? Warum mein Vater?«
    »Er hatte panische Angst vor ihm seit dem Tod deiner Tante Teresa kurz nach ihrer Heirat mit ihm. Er fürchtete ihn wie den Teufel, abergläubisch, du weißt, was passiert ist, oder?«
    Der Professor war nicht so zimperlich wie Custardoy. Er kam direkt zur Sache, für ihn bestand kein Zweifel, dass alles verdiente, gewusst zu werden, oder dass Wissen niemals schadet, oder wenn, dann hatte man es auszuhalten. Ich dachte in jenem Augenblick – es war wie ein Blitz –, dass jetzt die Zeit für mich gekommen war, zu wissen, als hätten die Geschichten, die lange Jahre ruhen, eine Stunde, in der sie erwachen, und als könnte nichts gegen ihre Heraufkunft getan, als könnte sie allenfalls ein wenig hinausgeschoben werden, ein wenig noch, zu keinem Zweck. ›Ich glaube nicht, dass für irgendetwas die Zeit vergeht‹, hatte Luisa im Bett zu mir gesagt, kurz bevor mein Arm ihre Brust berührt hatte, ›alles ist da und wartet darauf, dass man es zurückholt.‹ Sie hatte es gut ausgedrückt, wie ich glaube. Vielleicht kommt ein Augenblick, in dem die Dinge erzählt werden möchten, sie selbst, vielleicht um zur Ruhe zu kommen oder um endlich zu einer Fiktion zu werden.
    »Ja, ich weiß, ich weiß, dass sie sich mit einem Schuss das Leben genommen hat.« Und ich gab zu, etwas zu wissen, dessen ich mir in Wirklichkeit weder gewiss noch sicher war, es handelte sich nur um ein noch frisches Gerücht, das von Custardoy zu mir und von mir zu Luisa gelangt war.
    Professor Villalobos trank noch immer Wein und aß jetzt mit großer Geschwindigkeit seine Torte, wobei er den Löffel handhabte, als wäre er ein Skalpell seines ärztlichen Vaters. Nach jedem Bissen oder Schluck wischte er sich mit der Serviette über den feuchten Mund, der feucht blieb, nachdem er ihn getrocknet hatte. Auch in dieser Angelegenheit oder Neuigkeit besaß er mehr Information als ich.
    »Meine Eltern waren da, als es passierte, das werdet ihr vielleicht nicht wissen, zum Essen eingeladen.« Er hatte gesagt ›das werdet ihr nicht wissen‹, er hatte den Plural benutzt, wie man es gegenüber Ehepaaren tut. »Sie kamen entsetzt nach Barcelona zurück, und ich habe oft gehört, wie sie es erzählten. Deine Tante stand vom Tisch auf, nahm die Pistole deines Großvaters, lud sie, ging ins Badezimmer, und dort schoss sie sich in die Brust. Meine Eltern haben sie tot gesehen, auch deine ganze Familie, außer deiner Großmutter, die ein paar Tage außerhalb von Madrid verbrachte, bei einer Schwester, die in Segovia oder im Escorial lebte.«
    »In Segovia«, sagte ich. Diese Information besaß ich.
    »Es war ihr Glück, oder vielleicht hat deine Tante es so eingerichtet, es ist nicht wahrscheinlich. Dein Großvater hingegen hat sich nie vom Anblick seiner blutüberströmten Tochter erholt, die mit einer zerstörten Brust auf dem Badezimmerboden lag. Sie war mehr oder weniger normal gewesen während des Mittagessens, na ja, sie war still und aß kaum und erzählte nichts, als wäre sie unglücklich in einem Augenblick, da es ihr nicht anstand, sie war erst vor einer Woche oder so von ihrer Hochzeitsreise zurückgekehrt. Aber das haben meine Eltern später rekonstruiert, während sie aßen, konnte niemand ahnen, was geschehen würde.« Und dann fuhr Villalobos fort, zu erzählen, was ich nicht wissen wollte, aber erfahren habe. Er erzählte ein paar Minuten lang. Er erzählte mit Einzelheiten. Er erzählte. Er erzählte. Ich hätte ihn nur dann nicht hören können, wenn ich gegangen wäre. Und bevor er verstummte, fügte er hinzu: »Alle sagten, Ranz habe großes Pech gehabt, da er zum zweitenmal Witwer geworden sei.« Dann machte er eine Pause und aß die Torte auf, deren Verzehr er unterbrochen hatte (der Löffel abermals rhetorisch), während er die Einzelheiten erzählte und eine andere Torte erwähnte, eine Eistorte, die schmolz. Aber weder Luisa noch ich sagten etwas, so dass er das Instrument auf den Teller legte und an den Anfang zurückkehrte, Professor, der er war. »Du kannst dir vorstellen, als Ranz später deine Mutter heiratete, lebte dein Großvater in einem permanenten Angstzustand. Anscheinend erbleichte er jedes Mal und hob die Hände an die Stirn,

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