Mein Herz so weiß
sagte, immer vage vermisse und für die ich Nachrichten monatelang aufhebe), waren die Wochen in Genf äußerst deprimierend. Nicht, dass mich die Arbeit jemals sehr interessiert hätte, aber in dieser Stadt und im Winter wurde sie mir unerträglich, denn das Quälendste einer Arbeit ist nicht die Arbeit an sich, sondern das, was uns, wie wir wissen, am Ende des Arbeitstages erwartet oder nicht erwartet, mag es sich auch darauf beschränken, mit der Hand in einem Postfach herumzutasten. Dort erwartete mich nichts und niemand, ein kurzes Telefongespräch mit Luisa, deren mehr oder minder verliebte Sätze mir nur dazu verhalfen, statt allzu vieler Stunden nur zwei unter Schlaflosigkeit zu leiden. Dann ein Abendessen, zumeist in meinem eigenen Appartement improvisiert, das am Ende nach dem roch, was ich gegessen hatte, nichts Kompliziertes, nichts Übelriechendes, aber es roch, die Küche im selben Raum wie das Bett. Nach zwanzig und nach fünfunddreißig Tagen Aufenthalt kam Luisa mich jeweils zu einem langen Wochenende besuchen (jedes Mal vier Nächte), in Wirklichkeit hatte es keinen Sinn, dass ich darauf wartete oder dass sie so kurz blieb, sie war ja an keine Tätigkeit gebunden, die nicht aufgeschoben werden konnte, noch an irgendeinen Zeitplan. Aber es schien, als würde sie voraussehen, dass bald auch ich diese Arbeit als Zeitkraft aufgeben würde, die uns zwingt, zu reisen und zu viel Zeit außerhalb des eigenen Landes zu verbringen, und als fände sie es wichtiger – wichtiger, als mich in dem zu begleiten, dessen Ende absehbar war, im nunmehr Vergänglichen –, das Terrain des Dauerhaften zu bereiten und zu besorgen, zu dem ich schließlich zurückkehren würde, um zu bleiben. Es war, als hätte sie ihrem neuen Personenstand allen Raum gegeben und das Vorangehende begraben, und als bliebe ich dagegen weiter meinem Junggesellenleben verbunden in einer anormalen, unangebrachten und ungewünschten Fortsetzung; als hätte sie geheiratet und ich noch nicht, als wäre das, worauf sie wartete, die Heimkehr des umherirrenden Ehemanns, während ich auf den Tag meiner Heirat wartete, Luisa installiert und mit verändertem Leben, meines – wenn ich auswärts war – noch immer identisch mit dem meiner dahingegangenen Jahre.
Bei einem ihrer Besuche aßen wir mit einem Freund meines Vaters zu Abend, jünger als er und älter als ich (er mochte fünfzehn Jahre älter sein), der sich einen Abend auf der Durchreise in Genf befand, auf dem Weg nach Lausanne oder Luzern oder Lugano, und ich vermute, dass er in den vier Städten dunkle oder schmutzige Geschäfte zu erledigen hatte, ein einflussreicher Mann, ein Mann im Schatten, wie es mein Vater gewesen war, während er sein Amt im Prado bekleidete, denn Professor Villalobos (so lautet sein Name) ist (bei einem sehr gebildeten Publikum) vor allem für seine Untersuchungen über spanische Malerei und Architektur des 18. Jahrhunderts bekannt, außer für seinen Infantilismus. Für einen noch kleineren, aber weniger gebildeten Zirkel handelt es sich zugleich um einen der größten akademischen und politischen Intriganten der Städte Barcelona, Madrid, Sevilla, Rom, Mailand, Straßburg und sogar Brüssel (und Genf natürlich; zu seinem Ärger hat er noch keine Macht in Deutschland oder England). Wie es jemandem ansteht, der so erhaben und ungestüm ist, hat er mit den Jahren auch etwas ferner liegende Themenbereiche berührt, Ranz hat immer große Wertschätzung empfunden für seine kurze, glänzende Arbeit (sagt er) über die Casa del Principe des Klosters Escorial, die ich nicht gelesen habe noch je lesen werde, wie ich fürchte. Dieser Professor lebt in Katalonien, Vorwand genug, um meinen Vater nicht zu besuchen, wenn er nach Madrid kommt, so zahlreich sind seine Beschäftigungen in der Hauptstadt des Königreiches. Aber die beiden schreiben sich relativ häufig Mitteilungen, die von Professor Villalobos (die Ranz mir irgendwann einmal zu lesen gegeben hatte, amüsiert) in einer bewusst antiquierten, ornamentalen Prosa, die bisweilen auch auf seine Sprech- oder besser Zungenfertigkeit durchschlägt: Er ist ein Mensch, der zum Beispiel angesichts einer Unannehmlichkeit oder eines Missgeschicks niemals sagen wird: ›So ein Mist‹, sondern ›Eine nette Bescherung‹. Ich hatte ihn kaum gesehen in meinem Leben, aber an einem Montagnachmittag (Intriganten reisen niemals am Wochenende) rief er mich auf einen Hinweis meines Vaters hin an (wie es in New York jener hohe
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