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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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akkumulieren sich ohne Ausnahme und sind verwechselbar. Es ist schon erstaunlich, dass die meisten Leute noch immer wissen, was ihnen wirklich passiert ist. Aber es ist unmöglich, das, was den anderen geschehen ist und was sie uns erzählen, von dem zu unterscheiden, was uns als fiktiv präsentiert wird, oder als wirklich, aber weit entfernt, etwas Wirkliches, das Personen betrifft, die wir nicht kennen, oder solche aus der Vergangenheit. Sagen wir, dass das eigene Gedächtnis, von extremen Fällen abgesehen, noch immer ziemlich heil ist, ziemlich unversehrt, man erinnert sich an das, was man persönlich gesehen und gehört hat, anders, als man sich an Bücher oder Filme erinnert, aber die Sache ist nicht mehr so verschieden, wenn es um etwas geht, das
andere
gesehen, gehört, erlebt und gewusst und uns dann erzählt haben. Und dann erfindet man.«
    Professor Villalobos entschuldigte sich nicht mehr, sondern er dozierte. Er wechselte das Thema, er war des vorherigen überdrüssig geworden. Er rührte im Kaffee mit seinem neuen Löffel, er hatte sich Saccharin hineingetan, nachdem er so viel gegessen hatte. Er war kein dicker Mann, aber auch nicht schlank. Bei einem vorbeigehenden Kellner bestellte er eine Zigarre. »Eine Zigarre«, sagte er, obwohl er es auf Französisch sagte und ich übersetzte.
    »Ich verwechsle sämtliche Reden, die ich in meinem Leben übersetzt habe. Ich erinnere mich an nichts«, sagte ich, um ihm zu schmeicheln und ihn ein wenig für meine ungerechte Unverschämtheit zu entschädigen.
    »Was für ein Feuer?« Luisa ließ ihn noch nicht das Thema wechseln.
    »Ich weiß nicht«, sagte der Professor, »ich weiß nicht einmal, ob es so etwas überhaupt gab. Damals, als deine Tante starb und mehr darüber gesprochen wurde, bekam ich Angst davor, dass die Wohnung nachts brennen könnte, und ich schlief schlecht, es ist eine normale Angst in der Kindheit oder sie war es zu meiner Zeit, aber ich verbinde sie damit, dass ich jemanden gesehen oder von jemandem gehört habe, der im Bett verbrannt ist, während er schlief. Dieses Bild ist wiederum vage mit dem Tod jener ersten Frau deines Vaters verbunden, aber in Wirklichkeit weiß ich nicht, warum, ich erinnere mich nicht, dass jemand etwas darüber gesagt hätte, etwas Konkretes über diesen Tod, der im Unterschied zu dem deiner Tante für uns sehr weit weg war. Vielleicht habe ich diese Szene in einem Film gesehen, der in den Tropen spielte, sie beeindruckte mich, und deshalb habe ich die beiden Vorstellungen verbunden, Kuba und das Feuer, das Feuer und die kubanische Frau. Zu meiner Zeit gab es viele Filme, die in den Tropen spielten, es war Mode, nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Leute wahrscheinlich Lust, Orte zu sehen und sich vorzustellen, die weit entfernt waren vom Konflikt, wie die Karibik oder der Amazonas.«
    Professor Villalobos wechselte endgültig das Thema, nicht ohne Mühe, ich dachte, ihn langweilte unsere Gesellschaft. Das Feuer fürchtete er wohl nicht mehr, denn der Kellner brachte ihm die Zigarrenkiste, er nahm eine, ohne zu zögern (er kannte die Marken), roch nicht an ihr (er hatte Stil, er trug auch keine Ringe), steckte sie in den Mund – den feuchten Mund, der immer voll ist und die Fülle – und ließ zu, dass man seinem Gesicht mit einer gewaltigen Flamme, mit der man sie ihm anzündete, zu nahe kam. Diese Zigarre roch schlecht, aber ich rauche keine. Der Professor tat ein paar Züge, und dabei nahmen seine Augen wieder einen abwesenden Ausdruck an oder vergrub sich sein Kopf wieder in dunkle Gedanken. Auch jetzt wirkte er nicht unaufrichtig: wenn er niedergeschlagen und stumm war, ähnelte er ein wenig jenem englischen Schauspieler, der sich vor Jahren in Barcelona umgebracht hatte, wo Villalobos lebte, George Sanders mit Namen, ein großer Mime. Vielleicht hatte er sich wieder daran erinnert, dass er unglücklich war und dies nicht zu den Dingen gehörte, die man ihm erzählt hatte oder die er gelesen oder erfunden hatte oder die Teil einer Intrige waren.
    »Der Amazonas«, sagte er mit der Zigarre in der Hand. Die Glut leuchtete.

A n jenem Abend sprachen Luisa und ich miteinander, als wir in das Appartement kamen, wenn auch nur sehr kurz und erst, nachdem wir zu Bett gegangen waren, nach zwei schweigenden Fahrten im Taxi. Aber es hat keinen Sinn, dass ich noch mehr von diesem Abend spreche, vielmehr möchte ich von einem anderen sprechen, der nicht viel später kam, oder, was das Gleiche ist, vor kurzem, genau

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