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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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überlassen, ob ich aufwachte und es direkt hörte oder ob ich nach der ermüdenden Reise aus Genf weiterschliefe und es nur indirekt und später erführe, durch sie und mit anderen Worten (mit Übersetzung und Zensur womöglich) oder aber es nie erführe, wenn man es so vereinbarte. Vielleicht hatte sie nicht die Absicht, es zu tun, nicht an jenem Abend oder Nachmittag, bis sie nach Hause gekommen war und mein Necessaire, meine Zahnbürste, meinen Mantel und dann vielleicht meine schlafende Gestalt auf unserem Bett gesehen hatte. Vielleicht war sie ins Zimmer getreten, und sie, nicht ich, hatte die Tür geschlossen. Als ich dies dachte, wurde mir klar, dass es so gewesen sein musste, denn erst in diesem Augenblick bemerkte ich, dass das Bett nicht so gemacht war, wie ich es vorgefunden hatte. Jemand hatte Laken, Decke und Tagesdecke an einer Seite aufgeschlagen und versucht, mich mit den unbeholfen umgeschlagenen Enden zuzudecken, soweit Gewicht und Umfang meines Körpers es erlaubten. Ich selbst konnte es gewesen sein im Schlaf, dachte ich, aber das war nicht wahrscheinlich, ich verwarf es sofort und fragte mich sogleich, wann dies geschehen sein mochte, mein Zudecken, wann Luisa die Tür geöffnet und mich ausgestreckt, schlafend gesehen hatte, vielleicht mit in Unordnung geratenem Haar, mit ein paar einzelnen Haaren, die quer über meiner Stirn lagen, wie feine Falten, die aus der Zukunft gekommen waren, um mich einen Augenblick lang zu verdüstern. (Ich hatte mir die Schuhe nicht ausgezogen, ich trug sie immer noch, und jetzt lagen sie wirklich auf der Tagesdecke.) Und ich fragte mich auch, wie lange Luisa und Ranz schon in der Wohnung waren und wie sie es angestellt hatte, das Gespräch so zu führen, dass in dem Augenblick, da ich meine Tür angelehnt und mich wieder auf das Bett gelegt hatte und deutlich die ersten Sätze von Ranz hörte (wenn auch aus der Ferne), diese Sätze folgende waren:
    »Sie hat sich wegen etwas umgebracht, das ich ihr erzählt hatte. Wegen etwas, das ich ihr auf unserer Hochzeitsreise erzählt hatte.«
    Die Stimme meines Vaters war schwach, aber nicht die eines alten Menschen, nie hatte sie etwas von einem alten Menschen. Es war eine zögernde Stimme, als spräche er, ohne überzeugt zu sein, es auch zu wollen, als begriffe er, dass die Dinge sehr leicht gesagt werden (man braucht nur anzufangen, ein Wort nach dem anderen), aber, wenn sie erst einmal gehört worden sind, nicht mehr vergessen, sondern gewusst werden. Als müsste er daran denken.
    »Sie wollen es mir nicht erzählen«, hörte ich Luisa sagen. Ihre Stimme war rücksichtsvoll, aber natürlich, sie übertrieb weder die Note der Überredung noch des Taktgefühls noch der Zuneigung. Sie sprach behutsam, weiter nichts als behutsam.
    »Es ist nicht, dass ich nicht wollte, so, wie die Dinge liegen, wenn du es wissen willst«, antwortete Ranz, »obwohl ich es in Wahrheit niemandem gesagt habe, ich habe mich wohlweislich davor gehütet. Das alles ist vierzig Jahre her, es ist schon ein wenig so, als wäre es nicht geschehen oder als wäre es anderen Leuten geschehen, nicht mir und Teresa und der anderen Frau, wie du sie genannt hast. Sie existieren schon lange nicht mehr, was ihnen passiert ist, auch nicht, nur ich weiß es, nur ich bin da, um mich zu erinnern, und was passiert ist, gleicht verschwommenen Gestalten, als würde das Gedächtnis, wie die Augen, mit dem Alter ermüden und hätte keine Kraft mehr, klar zu sehen. Es gibt keine Brille für ein müdes Gedächtnis, meine Liebe.«
    Ich erhob mich, ich setzte mich an das Fußende des Bettes, von wo aus ich meine Tür weiter öffnen oder schließen konnte, ich brauchte nur die Hand auszustrecken. Instinktiv machte ich wieder das Bett, das heißt, ich brachte Laken, Decke und Tagesdecke in ihre ursprüngliche Position zurück, ich schlug sogar das Laken, auch die Decke unter. Alles war in Ordnung, ein wenig Licht, der Spalt, das Licht der Nacht draußen.
    »Warum haben Sie es ihr dann erzählt?«, sagte Luisa. »Sie haben sich nicht vorgestellt, was geschehen konnte.«
    »Fast niemand stellt sich etwas vor, zumindest, wenn man jung ist, und man ist sehr viel länger jung, als man glaubt. Das ganze Leben wirkt unglaublich, wenn man jung ist. Was den anderen passiert, die Missgeschicke, die Katastrophen, die Verbrechen, das alles kommt uns fremd vor, so als existierte es gar nicht. Selbst das, was uns passiert, kommt uns fremd vor, wenn es erst einmal passiert ist. Manche

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