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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Sie weinte, während sie schlief, wenn sie etwas schlief, ein paar Minuten, sie weinte im Schlaf, dann wachte sie sofort schweißgebadet und erschreckt auf und schaute mich verwundert an im Bett, dann entsetzt (›Die Augen starr auf mich geheftet, aber noch ohne mich zu erkennen oder wiederzuerkennen, wo sie sich befand‹, dachte ich, ›die fiebrigen Augen des Kranken, der erschrocken aufwacht, ohne dass ihm im Schlaf zuvor sein Erwachen angekündigt worden wäre‹), sie bedeckte das Gesicht mit dem Kissen, als wollte sie nichts sehen, nichts hören. Ich versuchte, sie zu beruhigen, aber sie hatte Angst vor mir, ich flößte ihr Angst oder Grauen ein. Jemand, der weder sehen noch hören möchte, kann nicht weiterleben, sie konnte nirgendwohin, es sei denn, sie erzählte die Geschichte, in Wirklichkeit wundert es mich nicht, dass sie sich umgebracht hat, ich habe es nicht vorausgesehen, ich hätte es voraussehen müssen. Man kann nicht so leben, wenn man ungeduldig ist, wenn man nicht abwarten kann, dass die Zeit vergeht (›Es war, als wäre sie verlorengegangen und als gäbe es keine abstrakte Zukunft‹, dachte ich, ›die als Einzige zählt, weil die Gegenwart sie nicht zu färben oder sich anzugleichen vermag‹). Alles verflüchtigt sich, aber das wisst ihr jungen Leute nicht. Sie war sehr jung.«
    Mein Vater unterbrach sich, möglicherweise, um Atem zu holen oder abzuwägen, was er bislang erzählt hatte, vielleicht sah er, dass es zu viel war, um aufzuhören. Die Stimmen erlaubten mir nicht, mir vorzustellen, wo jeder sich befand, mein Vater vielleicht zurückgelehnt auf der Ottomane und Luisa auf dem Sofa, oder Luisa auf der Ottomane und Ranz in dem neuen angenehmen Sessel, den ich kurz ausprobiert hatte. Vielleicht einer der beiden im Schaukelstuhl, ich glaubte es nicht, zumindest nicht Ranz, dem dieses Möbelstück nur gefiel, um in Gesellschaft originelle Posen einnehmen zu können. Da er nicht eben in heiterem Ton sprach, stellte ich ihn mir jetzt nicht in einer dieser Posen vor, er war auch nicht in Gesellschaft, ich stellte ihn mir eher am Rand seines Sitzes vor, ein wenig nach vorn geneigt, die Füße auf dem Boden, ohne auch nur zu wagen, die Beine übereinanderzuschlagen. Bestimmt schaute er Lisa mit seinen andächtigen Augen an, die allem schmeichelten, was sie betrachteten. Gewiss roch er nach Kölnisch Wasser und Tabak und Pfefferminz, ein wenig nach Likör und Leder, wie jemand, der aus den Kolonien gekommen war. Es konnte sein, dass er rauchte.
    »Aber was haben Sie ihr erzählt?«, sagte Luisa.
    »Wenn ich es dir jetzt erzähle«, sagte Ranz, »dann weiß ich nicht, ob ich nicht das Gleiche tue wie damals, liebes Kind.«
    »Keine Sorge«, antwortete Luisa mit Mut und Humor (Mut, weil sie es sagte, und Humor, weil sie es dachte), »ich werde mich nicht wegen etwas umbringen, das vor vierzig Jahren geschehen ist, egal, was es war.«
    Ranz brachte den gleichen Mut und Humor auf und lachte ein wenig. Dann antwortete er:
    »Ich weiß, ich weiß, niemand bringt sich wegen der Vergangenheit um. Mehr noch, ich glaube, es gibt nichts, weshalb du dich umbringen wirst, auch wenn du noch heute erfahren würdest, dass Juan getan hat, was ich getan und Teresa erzählt habe. Du bist anders, die Zeiten sind anders, leichter oder härter, sie werden mit allem fertig. Aber ich weiß nicht, ob die Tatsache, dir alles zu erzählen, von meiner Seite nicht ein bewusster Beweis der Zuneigung ist, abermals ein Beweis der Zuneigung, eine Gefälligkeit, damit du mir weiter zuhörst und Gesellschaft leisten willst. Und vielleicht wäre das Ergebnis das Gegenteil. Bestimmt würdest du dich nicht umbringen, aber vielleicht würdest du mich nicht wiedersehen wollen. Ich fürchte für mich, mehr als für dich.«
    Luisa legte ihm vermutlich eine Hand auf den Arm, wenn sie ihm nahe war, oder vielleicht auf die Schulter, wenn sie einen Augenblick aufstand (›Die Hand auf der Schulter‹, dachte ich, ›und das unverständliche Geflüster, das uns überzeugt‹), oder so hätte ich es mir als Bild vorgestellt, ich musste es mir vorstellen, ich sah es nicht, ich lauschte nur durch einen Spalt, nicht durch eine Wand oder durch offene Balkontüren.
    »Was Sie vor vierzig Jahren getan oder gesagt haben, bedeutet mir wenig und wird meiner Zuneigung nichts anhaben. Sie sind es, den ich kenne, und nichts kann das ändern. Den von damals kenne ich nicht.«
    »Den von damals«, sagte Ranz. »Den von damals«, wiederholte Ranz, und

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