Mein Herz so weiß
nahestehen, immer besser kennen, aber die Zeit bringt sehr viel mehr Ungewusstes als Gewusstes mit sich, man kennt vergleichsweise immer weniger, der Schattenbereich wird immer größer. Obwohl auch der helle Teil größer ist, werden die Schatten immer mehr. Luisa und du, ihr werdet Geheimnisse haben, nehme ich an.« Er schwieg einige Sekunden, und als er sah, dass ich nicht antwortete, fügte er hinzu: »Aber natürlich, du wirst nur deine kennen können, sonst wären die ihren ja keine.«
Ranz lächelte noch immer mit seinen stark konturierten Lippen, die meinen so sehr glichen, obwohl sie bei ihm Farbe verloren hatten und von senkrechten Falten durchzogen wurden, die von seinem Kinn und von der Stelle des Schnauzbartes ausgingen, den er den damaligen Fotos zufolge als junger Mann getragen hatte, den ich jedoch nicht mehr bei ihm gesehen habe. Seine Worte wirkten leicht gehässig (im ersten Augenblick dachte ich, er wisse etwas über Luisa und habe bis nach der Hochzeit gewartet, um es mir mitzuteilen), aber sein Ton jetzt war es nicht, nicht einmal zweideutig. Wenn es nicht zu viel gesagt wäre, würde ich sagen, dass es ein hilfloser Ton war. Es schien, als hätte er sich verirrt, kurz nachdem er zu sprechen begonnen hatte, und wisse nicht mehr, wie er dorthin gelangen sollte, wo er hinwollte. Ich konnte ihm helfen oder auch nicht. Er lächelte freundlich mit der dünnen Zigarette in der Hand, sie war schon aufgeraucht, mit mehr Asche als Filter, eine Weile schon klopfte er sie nicht ab, wahrscheinlich drückte er sie nicht aus, um seine Hilflosigkeit nicht zu verstärken. Ich rückte ihm den Aschenbecher noch näher und hielt ihn vor ihn hin, und dann legte er die Kippe ab, rieb sich die Finger, der verbrannte Filter roch schlecht. Er verschränkte seine Hände, die groß waren wie sein ganzer Körper und sein mehlweißer Kopf, an ihnen war sein Alter etwas mehr zu erkennen, ein wenig mehr, nicht sehr, sie hatten Falten, aber keine Flecken. Er lächelte jetzt leutselig, wie es seiner Gewohnheit entsprach, fast mitleidig, ohne Spott, seine Augen blickten klar, seine Augen wie große Likör- oder Essigtropfen, wir befanden uns eher im Halbdunkel. Er war kein alter Mann, nie war er es gewesen, wie ich gesagt habe, aber in diesen Augenblicken sah ich ihn gealtert, das heißt von Angst erfasst. Es gibt einen Schriftsteller namens Clerk oder Lewis, der über sich selbst nach dem Tod seiner Frau geschrieben hat und folgendermaßen begann: »Niemand hat mir je gesagt, dass der Schmerz ein Gefühl ist, das so sehr der Angst gleicht.« Vielleicht war es Schmerz, was in dem Lächeln von Ranz, meinem Vater, durchschien. Es ist bekannt, dass Mütter weinen und etwas Ähnliches wie Schmerz fühlen, wenn ihre Sprösslinge heiraten, vielleicht fühlte mein Vater seine eigene Freude und auch den Schmerz, den meine Mutter gefühlt hätte, die tot war. Ein stellvertretender Schmerz, eine stellvertretende Angst, ein Schmerz und eine Angst, die von einer anderen Person stammten, deren Gesicht wir beide schon ein wenig vergessen hatten, es ist merkwürdig, wie die Gesichtszüge derer verblassen, die uns nicht und die wir nicht mehr sehen, aus Verstimmung oder Erschöpfung oder ihrer Abwesenheit wegen, oder wie ihre immer in einem einzigen Tag ruhenden Fotografien sie usurpieren, meine Mutter ohne Brille, ohne ihre Kurzsichtigkeitsbrille, die sie sich in den letzten Zeiten zu sehr zu tragen angewöhnt hatte, erstarrt in dem Bild ihrer achtundzwanzig Jahre, das ich ausgewählt habe, eine Frau, die jünger ist, als ich es jetzt bin, mit gelassenem Gesichtsausdruck und leicht resignierten Augen, die sie, glaube ich, normalerweise nicht hatte, vielmehr waren sie heiter wie die meiner Großmutter aus Havanna, ihrer Mutter, beide lachten miteinander, sie lachten oft zusammen, aber es stimmt, dass es bei beiden auch bisweilen einen langen Blick voll Schmerz oder Angst gab, meine Großmutter unterbrach bisweilen das Schaukeln des Schaukelstuhls und verharrte mit verlorenem Blick, die Augen trocken und ohne zu blinzeln, wie jemand, der gerade aufgewacht ist und noch nicht begreift, bisweilen schaute sie die Fotos oder das Bild ihrer Tochter an, die aus der Welt verschwunden war, bevor ich geboren wurde, sie schaute sie eine Minute oder vielleicht länger an, sicher ohne nachzudenken, ohne sich überhaupt zu erinnern, mit einem Gefühl von Schmerz oder nachträglicher Angst. Und auch meine Mutter schaute sie bisweilen so an, ihre
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