Mein Herz so weiß
ferngerückte Schwester, unterbrach die Lektüre und nahm die Brille ab, mit einem Daumen im Buch, um die Seite nicht zu verblättern, und der Brille in der anderen Hand schaute sie bisweilen nirgendwohin und bisweilen zu den Toten, Gesichter, die man Gestalt annehmen, aber nicht altern sah, räumliche Gesichter, die flach geworden sind, Gesichter in Bewegung, die wir uns plötzlich im Zustand der Ruhe zu sehen angewöhnen, nicht sie, sondern ihr Bild, das lebendige Gesicht meiner Mutter verharrte in ihrer Betrachtung, während ihre Augen vielleicht melancholisch wurden wegen der Drehorgelmusik, die während meiner Kindheit zu jeder Tageszeit von der Straße in Madrid hochstieg und beim ersten Klang alle, die im Hause lebten, einen Augenblick innehalten ließ, die Mütter und die faulen oder kranken Kinder und die Dienstmädchen, die den Blick hoben und sogar auf den Balkon oder ans Fenster traten, um abermals zu sehen, was stets sich selber gleich war, einen sonnenverbrannten Mann mit einem Hut und einer Drehorgel, ein mechanischer Mann, der den Singsang der Frauen unterbrach oder ihn in Bahnen lenkte und den Blick der Bewohner einen Augenblick lang melancholisch werden ließ oder bei meiner Mutter länger als einen Augenblick, Schmerz und Angst sind nicht flüchtig. Die Mütter und die Kinder und die Dienstmädchen reagierten auf diesen Klang immer, indem sie den Blick hoben, wie Tiere den Hals reckten, und in derselben Weise reagierten sie auch auf den langgezogenen Pfiff der Scherenschleifer, die Frauen überlegten einen Moment, ob die Messer im Hause die richtige Schärfe hatten, oder ob sie rasch mit ihnen auf die Straße hinunterlaufen, eine Pause in ihren Verrichtungen oder ihrer Trägheit machen sollten, um sich zu erinnern und an Messerschneiden zu denken, vielleicht vertieften sie sich aber auch plötzlich in ihre Geheimnisse, in die gehüteten und in die erlittenen, das heißt, in die bekannten und in die unbekannten. Und dann, wenn sie den Kopf hoben, um auf die mechanische Musik oder auf einen Pfiff zu achten, der sich wiederholte und durch die ganze Straße näher kam, geschah es bisweilen, dass ihr Blick auf die Bilder der Abwesenden fiel, ein halbes Leben, das sie damit verbrachten, mit reglosen Augen oder einfältigem Lächeln Blicke auf stets rätselhafte Fotografien oder Bilder zu werfen, und noch ein Leben oder ein halbes, das des anderen, des Sohnes oder der Schwester, des Witwers, denen diese einfältigen und reglosen Blicke auf die Fotografie galten, von der der Schauende nicht immer weiß, wann man sie aufgenommen hat: meine Großmutter, die Blicke auf ihre tote Tochter, und meine Mutter, die Blicke auf ihre tote Schwester wirft, an deren Stelle sie getreten war; mein Vater und ich, die sie anschauen, und ich bereite mich darauf vor, ihn, Ranz, meinen Vater, anzuschauen; und meine geliebte Luisa, frisch verheiratet im Salon nebenan, weiß noch nicht, dass die Fotos, die man heute von uns gemacht hat, eines Tages Gegenstand ihrer Blicke sein werden, wenn sie nicht einmal mehr ihr halbes Leben vor sich hat und meines beendet ist. Aber niemand kennt die Reihenfolge der Toten noch die der Lebenden, weiß, wer zuerst mit dem Schmerz oder zuerst mit der Angst an der Reihe sein wird. Vielleicht verkörperte Ranz jetzt den Schmerz und die Angst, die wieder da waren: in seinem lächelnden und mitleidigen und besänftigenden Gesichtsausdruck, in seinen jetzt zigarettenlosen und verschränkten und müßigen Händen, in seinen Sportstrümpfen, die sorgsam hochgezogen waren, damit man niemals ein Stück Fleisch sehen konnte, ein Stück altes Fleisch wie das Fleisch von Verum-Verum, Fotografiefleisch, in seiner überladenen, für diese Zeiten ein wenig breiten Krawatte mit den so geschmackvoll kombinierten Farben, ein wenig breit der so sorgfältige Knoten. Er wirkte behaglich, wie er da saß, als wäre er der Besitzer des Kasinos von Madrid, solange er es gemietet hatte, er wirkte auch unbehaglich, ich half ihm nicht, mir zu sagen, was ihm im Kopf herumging, was er beschlossen hatte – oder vielleicht noch nicht –, mir am Tag meiner Hochzeit mitzuteilen, als er mich in jenem Nebenzimmer des Festes mit der Hand auf der Schulter zurückhielt. Jetzt sah ich es deutlich: es lag nicht daran, dass er nicht wusste, wie, sondern dass ein Aberglaube ihn lähmte, nicht zu wissen, was Glück oder Unglück bringen kann, sprechen oder schweigen, nicht schweigen oder nicht sprechen, zulassen, dass die Dinge ihren
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