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Mein Herz so weiß

Mein Herz so weiß

Titel: Mein Herz so weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Lauf nehmen, ohne sie anzusprechen oder zu beschwören, oder verbal eingreifen, um diesen Lauf zu lenken, sie verbalisieren oder keine Hinweise geben, zu Vorsicht raten oder nicht auf Gedanken bringen, manchmal bringen uns diejenigen auf Gedanken, die uns vor diesen Gedanken warnen wollen, sie bringen uns darauf, weil sie uns warnen, und sie bewirken, dass wir auf Dinge kommen, die wir uns niemals vorgestellt hätten.
    »Geheimnisse? Wovon redest du?«, sagte ich.
    Ranz errötete leicht, oder so schien es mir, als Höhepunkt und Abschluss seiner momentanen Hilflosigkeit; aber dann löschte er sogleich die Röte der Wangen aus, die ältere Menschen nur selten zulassen, und damit auch seinen lächelnden und vor Schmerz und Angst oder beidem leicht einfältigen Gesichtsausdruck. Er stand auf, wir beide haben jetzt eine ähnliche Statur, und legte mir abermals die große Hand auf die Schulter, aber er tat es von vorne und schaute mich dabei aus großer Nähe an, intensiv, aber nicht vielsagend, seine Hand auf meiner Schulter war fast der Schlag mit dem flachen Schwert, der den zum Ritter macht, der es nicht ist. Er hatte sich für den Mittelweg oder die Andeutung entschieden, er hatte sich nicht entschließen können, oder vielleicht war es ein Aufschub. Er sprach ernst und ruhig, nunmehr ohne Lächeln, sein knapper Satz wurde ohne das Lächeln gesagt, das fast immer auf seinen Lippen liegt, die fleischig sind wie die meinen, und das, als der Satz gesagt war, sogleich zurückkehrte. Dann nahm er eine neue dünne Zigarette aus seinem altmodischen Zigarettenetui und öffnete die Tür. Der Lärm des Festes drang herein, und in der Ferne sah ich Luisa, die mit zwei Freundinnen und einem früheren Freund sprach, den ich nicht leiden kann, aber sie schaute zu unserer Tür, die bisher geschlossen gewesen war. Ranz machte eine Handbewegung zu mir hin, wie zum Abschied oder zur Warnung oder zur Ermutigung (als wollte er sagen »Warten wir’s ab« oder »Kopf hoch« oder »Pass auf«), und ging aus dem Zimmer, er vor mir. Ich sah, wie er sofort übermütig mit einer Dame zu scherzen und laut zu lachen begann, von der ich nicht wusste, wer sie war, bestimmt stammte sie aus Luisas Hälfte, der Hälfte der Gäste meiner eigenen Hochzeit, die ich nie gesehen hatte und auch sicher nie wiedersehen würde. Oder vielleicht war sie ein Gast meines Vaters, jetzt, da ich daran denke: er hat immer merkwürdige Freundschaften gepflegt oder solche, die ich kaum kenne.
    Das war der Rat, den Ranz mir erteilte, es war ein Flüstern:
    »Ich sage dir nur eines«, sagte er. »Wenn du einmal Geheimnisse haben wirst oder sie jetzt schon hast, dann erzähl sie ihr nicht.« Und er fügte hinzu, jetzt wieder mit einem Lächeln: »Viel Glück.«
    Die Unterschriften der Zeugen blieben in jenem Zimmer, und ich weiß nicht, ob jemand sie an sich nahm, auch nicht, wo sie jetzt sind, vielleicht landeten sie mit den leeren Servierplatten und den Resten des Festes im Abfall. Ich nahm sie natürlich nicht von jenem Tisch, auf den ich mich eine Weile gestützt hatte, so hochzeitlich gekleidet, an dem Tag, an dem ich mich so kleiden musste.

G estern hörte ich den seltsamen Klang einer Drehorgel von der Straße, es gibt sie kaum noch, eine Spur der Vergangenheit. Ich hob sofort den Blick, wie in der Kindheit, sie tönte zu laut und hinderte mich am Arbeiten, ihr Klang war zu erinnerungsträchtig, als dass ich mich auf irgendetwas hätte konzentrieren können. Ich stand auf und trat ans Fenster, um zu sehen, wer da spielte, aber weder der Musiker noch das Instrument befanden sich in meinem Gesichtsfeld, sie standen um die Ecke, verborgen von dem Gebäude mir gegenüber, das mir nicht das Licht nimmt, es ist niedrig. Es verbarg sie sicher nur knapp, denn an dieser Ecke sah ich eine Frau mittleren Alters, mit einem Zigeunerzopf, aber nicht in folkloristischer Kleidung (in Straßenkleidung), die mir das Profil zuwandte und einen kleinen Plastikteller in der Hand hielt, eher einen Untersetzer für Gläser, sie würde nicht viele Münzen einsammeln können, sie würde ihn leeren, seinen Inhalt in die Jackentasche oder irgendeine Handtasche schütten müssen, um ihn wieder frei zu haben, nicht ganz leer, sondern mit ein paar Münzen darauf, Geld ruft Geld herbei. Ich hörte eine Weile zu, zuerst einem Chotis, dann etwas undefinierbar Andalusischem, danach einem Pasodoble, und dann trat ich auf den Balkon hinaus, um zu sehen, ob ich den Drehorgelspieler von den Pflanzen

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