Mein Herz springt (German Edition)
vollkommen in den Bann. Keine Spur von Fachidiotie oder Langeweile. Mein Eindruck von dem weltfremden Spezialisten, der sich in seinem stillen Kämmerchen einschließt und tage- und nächtelang seinen Forschungen widmet, gehört nun endgültig der Vergangenheit an.
Das Publikum vergöttert Clausen. Stille, Lachen, Beifall verleihen dem Vortrag abwechselnd einen anerkennenden Charakter. Ich spüre Gänsehaut am ganzen Körper. Die Nähe zu Clausen berührt mich. Es liegt trotz der vielen Menschen etwas in der Luft, das uns beide verbindet. Das kein anderer wahrnimmt. Ich bin nicht eine von vielen. Ich bin die EINE, der er heute Abend seine ganze Aufmerksamkeit schenken wird. Ein unbeschreibliches Gefühl.
Lisa erweckt mich schonungslos aus meiner Träumerei: »Toller Typ.« Sie stößt mich leicht mit ihrem Ellenbogen in die Hüfte.
»Ja«, sage ich.
»Willst du nicht doch nach dem Vortrag …?«
Ich lächele ihr kurz zu: »Mach dir keine Gedanken. Wir gehen heute Abend zusammen essen.«
»Was?«, fragt Lisa ungläubig. »Und wieso erzählst du mir das erst jetzt?«
»Weil du vorhin beim Essen so eine lustige Karriereleiter-Story gesponnen hast. Die wollte ich nicht entmystifizieren.«
»Frau Doktor Liebknecht, Frau Doktor Liebknecht. Dann pass mal gut auf dich auf.«
»Das werde ich«, flüstere ich Lisa zwinkernd zu. »Ist ja nur ein Abendessen.«
***
Nur ein Abendessen. Nur ein Abendessen, wiederhole ich für mich selbst, als ich nach Veranstaltungsende im Hotel ankomme. Ich bin nervös wie selten zuvor. Aber wieso? Es handelt sich lediglich um eine Verabredung zum Abendessen. Und es ist nicht so, dass ich mich seit der Heirat mit Kalle nie mit anderen Männern zu einem unverbindlichen Abendessen verabredet habe.
Das heute fühlt sich anders an. Es fühlt sich gefährlich an. Gefährlich in dem Sinne, dass ich keinen »normalen« Abend erwarte. Und noch schlimmer: Dass ich auch keinen normalen Abend mit Prof. Clausen verbringen möchte.
Ich lege mich auf das Bett und zwinge mich, auf andere Gedanken zu kommen. Mein Handy zeigt keine neuen Nachrichten oder entgangene Anrufe an. Komisch. Wieso hat sich Kalle noch nicht gemeldet? Ich rufe zu Hause an. Mama geht ans Telefon. »Hallo Mama, wie geht es euch?«
»Gut, Betty. Es läuft alles prima. Nach dem Kindergarten haben Frieda und ich noch ein Eis gegessen. Danach hat Frieda noch für eine Stunde mit den Nachbarskindern gespielt. Jetzt haben wir gerade gegessen und gleich bringe ich die kleine Prinzessin ins Bett. Sie steht schon neben mir und reißt mir den Hörer gleich aus der Hand. Ich gebe sie dir. Pass gut auf dich auf!«
»Hallo, Mama! Wann kommst du wieder?«, fragt Frieda ungeduldig.
»Noch zwei Mal schlafen, meine Süße. Die Zeit wird ganz schnell vergehen. Freust du dich, dass Oma da ist?«
»Ja, Mama. Wir haben heute Eis gegessen und heute Abend hat Oma Milchreis mit Kirschen für mich gekocht.«
»Das ist super«, antworte ich. Jetzt, wo ich Friedas Stimme höre, vermisse ich sie sehr.
»Dann schlaf gut, Frieda. Ist der Papa denn auch da?«
»Nein. Oma sagt, dass er noch im Büro arbeitet.«
»Bestimmt kommt er bald nach Hause«, tröste ich Frieda. »Ich lege jetzt auf. Schlaf gut und träum süß. Und vergiss nicht, dass ich dich ganz doll lieb habe. Bis morgen.«
»Bis morgen, Mama.«
Ich wähle direkt Kalles Handynummer. Es geht nur der Anrufbeantworter an. Ich hinterlasse keine Nachricht, sondern schreibe eine kurze SMS: »Hallo mein Schatz, kann Dich leider nicht erreichen. Gehe gleich noch mit Kollegen eine Kleinigkeit essen. Melde mich später noch einmal. Ich liebe Dich. Betty.« Ich lege das Telefon auf den Nachttisch und blicke an die Decke des Hotelzimmers. Wo ist Kalle? Ist er noch beim Mandanten? Wieso hat er sich noch nicht gemeldet? Muss ich mir Sorgen machen? Ich möchte mir jetzt keine Sorgen machen. Ich möchte einen unbeschwerten Abend verbringen. Kalle, bitte melde dich.
Ich fange an, mich ausgehfertig zu machen. Dabei lausche ich andauernd mit einem Ohr in Richtung Telefon. Ich entscheide mich für eine unverfängliche Kleidungsvariante: Eine enge, dunkelgraue Jeans und ein schwarzes, eng anliegendes Oberteil mit U-Boot-Ausschnitt. Darüber eine etwas längere Silberkette. Mein Haar trage ich heute offen. Ich will Clausen auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass ich mich wegen ihm besonders in Schale geworfen habe. Es handelt sich schließlich um ein Abendessen und nicht um ein Rendezvous. Im Vergleich
Weitere Kostenlose Bücher