Mein Herz springt (German Edition)
fehlt also nur noch Clausen. Er wird sich im Backstage-Bereich gerade auf seine Rede vorbereiten«, fährt Torben fort. »Er eröffnet jedes Jahr mit einem mittellangen Jahresrück- und Ausblick den festlichen Akt.«
»Ach stimmt«, antworte ich bewusst verwundert. »Clausen habe ich auch noch nicht gesehen.«
Torben nimmt mir meine Verwunderung allerdings nicht ganz ab. Scherzend stößt er mir sanft mit seinem Ellbogen in die Taille. »Du meinst Hanno, oder? Wie ich bei unserem Kickoff-Meeting überrascht festgestellt habe, seid ihr ja per Du. Da musst du später mal ein bisschen aus dem Nähkästchen plaudern, wie es dazu kam. Jetzt heißt es erst einmal, andächtig seiner Rede lauschen. Schau‘ nach vorne!«
Der Vorhang öffnet sich.
Oh mein Gott. Wieder fangen meine Finger an zu zittern. Ich nehme meine Hände vom Glas, das ich fest umklammert hielt, und lege sie auf meinen Schoß. Ich traue mich kaum, nach vorne zu blicken. Aber ich muss zwangsläufig, denn jetzt höre ich seine Stimme. In meinem Kopf dreht sich alles, mein Rumpf scheint sich wie durch ein Seil zusammenzuziehen. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich das alles aushalten kann.Ich hole bewusst Luft und trinke das Glas Wasser vor mir in einem Zug aus.
Hannos Begrüßungsrede erinnert mich an seinen Vortrag in Wien. Er spricht ruhig und sachlich. Ab und zu spickt eine Art Selbstironie sein Reden. Auch hier auf dieser Bühne zieht er die Blicke und Gedanken aller auf sich. Wie gefesselt scheinen die Gäste an seinen Lippen zu hängen. Es herrscht eine unglaubliche Ruhe im festlichen Saal – unterbrochen durch die lachende Reaktion der Kollegen auf Hannos witzige Zwischenbemerkungen. Er versteht es, unglaublich authentisch bei den Zuhörern anzukommen. Er ist ehrlich, redet nicht alles schön. Er geht auf die Höhen und Tiefen des vergangenen Jahres sowie auf die Herausforderungen des nächsten Jahres ein. Er bedankt sich bei allen – den Kollegen aus dem Krankenhaus, aber auch bei seinen Forschungsteams. Ohne diese wäre auch sein persönlicher Erfolg nicht möglich gewesen. Alle spenden Beifall. Abschließend wünscht er den Gästen noch einen schönen und vor allem unterhaltsamen Abend. Dann fällt das Scheinwerferlicht auf eine Streichergruppe, die sich auch auf der Bühne befindet. Und bei den ersten Tönen von »Leise rieselt der Schnee« fallen kleine weiße Schneeflocken vom Himmel. Als Engel verkleidete Frauen bewegen sich langsam dazu. Sie verlassen gemächlich die Bühne und sammeln an den Tischen die Musikwünsche ein. Ich beobachte, wie Hanno an einem der Tische vor der Bühne Platz nimmt.
Das Essen wird auch von Engeln serviert. Es ist geschmackvoll angerichtet. Und dennoch habe ich das Gefühl, keinen Bissen herunterzubekommen. Bei der Suppe geht es noch. Beim Hauptgang, der Entenbrust mit Kartoffelklößen und Rotkraut, muss ich nach zwei Bissen kapitulieren. Jeder weitere könnte zum Brechreiz führen.
Natürlich lässt Torben mein zögerliches Essverhalten nicht unkommentiert stehen: »Betty, du isst wie ein Spatz. Wir brauchen eine gute Grundlage für den weiteren Abend. In deinem schwarzen Kleid ist noch genug Platz für ein bisschen Ente.«
Ich lächele Torben zu und erkläre: »Torben, in meinem Alter darf man sich abends gerade noch einen Teller Suppe oder ein belegtes Brot gönnen. Alles Weitere sorgt für Speckpolster auf den Hüften. Und du weißt ja: Als Frau beziehungsweise Ehefrau steht man immer unter Druck: Die Konkurrenz schläft nicht.«
Und bevor Torben kontern kann, entschuldige ich mich und gehe erst einmal zur Toilette. Ich muss raus aus dem gefüllten Saal. Ich muss mich frisch machen und noch einmal Sauerstoff tanken. Immer noch spiele ich in Gedanken durch, wie wohl mein erster Kontakt mit Hanno an diesem Abend aussehen könnte. Werden wir uns vielleicht gar nicht begegnen?
Ich frage mich, wieso man sich als Frau in solchen Situationen eigentlich immer selbst herunterzieht. Es wäre doch ein Einfaches, den Abend zu genießen, alles auf sich zukommen zu lassen – wissend, dass beide darauf warten, sich zu sehen und zu berühren. Ich entscheide mich also für die offensive Rückkehr in den Saal. An der Bar, die ich passiere, an der sich aber noch niemand aufhält, nehme ich schnell eine Cola zu mir. Dann gehe ich weiter – aufrechten Ganges – direkt zu unserem Tisch, an dem die Kollegen gerade den Hauptgang beenden.
Und natürlich kann sich Torben den Kommentar nicht ersparen: »Betty, wir hatten
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