Mein Herz springt (German Edition)
die kindliche Traumwelt dieser Märchenlandschaft. Und während ich Friedas Ritt durch das Lichtermeer von außen betrachte, überkommt mich ein Gefühl der Demut. Demut vor dem Glück, diese kleine Dame vor mir – mit den aus Freude strahlenden Augen – durch das Leben begleiten zu dürfen.
Wir kaufen uns noch eine Tüte gebrannte Mandeln und fahren mit der Straßenbahn nach Hause. Frieda beobachtet von unserer Sitzbank aus das Treiben der Stadt. Ihr Gesicht ist so nah am Fenster der Bahn, dass ihre Nase fast platt gedrückt wird. Durch ihre Atemzüge beschlägt die Scheibe. Frieda macht sich einen Spaß daraus und zeichnet mit ihren kleinen Fingern Figuren auf das Fensterglas. Und wenn diese verschwunden sind, beginnt sie von Neuem.
Meine Gedanken schweifen – trotz des mit Menschen dicht gefüllten Abteils – nach Hamburg. In drei Tagen werde ich um diese Uhrzeit schon auf der Weihnachtsfeier sein. Hanno wird durch eine sachliche, aber mit witzigen Passagen gezierte Rede die feierliche Veranstaltung eröffnen. Und wie bei seinem Vortrag im Zuge des Kardiologenkongresses in Wien werde nur ich wissen, was uns beide verbindet. Danach wird der Abend seinen Lauf nehmen.
***
Die Zeit bis zu meiner Abreise nach Hamburg zieht sich. In meinem Kopf drehen sich die Gedanken. Ich habe das unerklärbare Gefühl, dass die nächste Begegnung mit Hanno eine zentrale Bedeutung in unserer Beziehung einnehmen wird. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß auch nicht, ob es eine Wendung zum Guten oder zum Schlechten sein wird. Wie sollte ich auch. Zum einen kann ich die Zukunft nicht vorhersagen. Zum anderen stellt sich in diesem Zusammenhang die unweigerliche Frage: Was ist gut und was ist schlecht? Ist das, was für mich gut ist, auch gut für mein privates Umfeld, sprich, meine Ehe? Und sollte ich davon ausgehen, dass meine Ehe davon unberührt bleibt: Bedeutet ein glücklicher Abend auch eine glückliche Zukunft mit Hanno? Bedeutet »gut« eigentlich nicht vielmehr, dass nichts passieren sollte? Dass uns beiden klar wird, dass unsere Beziehung keine Zukunft hat? Täte ich nicht nur Kalle, sondern auch mir damit einen Gefallen?
Während sich meine Gedanken im Kreis drehen, erinnere ich mich an eine Passage aus Michael Ondaatjes Bestseller »Der englische Patient«: »Die Hälfte meiner Tage ertrage ich es nicht, Dich nicht zu berühren. Die übrige Zeit habe ich das Gefühl, es ist egal, ob ich Dich je wiedersehe. Es ist nicht die Moral. Es ist, wie viel Du ertragen kannst.«
Und erst jetzt, viele Jahre nachdem ich das Buch gelesen habe, verstehe ich, was Ondaatje damit meint. Und ich habe das Gefühl, dass es kein Zufall ist, dass mir ausgerechnet diese Zeilen in Erinnerung geblieben sind. Es geht auch in meiner eigenen Geschichte, die ich gerade erlebe, nicht um andere. Es geht nur um mich. Ich muss entscheiden, was ich mir zumuten kann und was nicht. Ich muss im Alltag mit dem Schmerz, einen Teil meines Traumes nicht leben zu können, zurechtkommen.
Und doch kommt mir diese Betrachtungsweise egoistisch vor. Kann und darf ich die geliebten Menschen um mich herum einfach ausblenden? Steht mein persönliches Glück über der Verantwortung, die ich meiner Familie gegenüber trage? Steht nicht vielmehr das moralische Handeln über dem persönlichen Glück? Oder besser gesagt: Ist das wahre Glück auf Dauer nicht nur durch moralisches Handeln tragbar?
***
Als ich am Freitag, den 14. Dezember, in meiner festlichen Garderobe aus dem Taxi vor dem Veranstaltungsort der Weihnachtsfeier steige, habe ich das Gefühl, dass sich alles in mir verkrampft. Ich bin so aufgeregt, wie ich es selten zuvor in meinem Leben war. Ich verspüre Übelkeit und Schwindel zugleich. Ich fühle mich nicht in der Lage, meinen Körper auf den eleganten Schuhen zum Eingang der sich vor mir befindlichen Villa zu bewegen. Ich lasse mich tief in den Sitz des Taxis fallen.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragt der Taxifahrer.
»Sicherlich gleich wieder. Geben Sie mir bitte noch zwei Minuten? Ich zahle Ihnen die Wartezeit selbstverständlich«, entgegne ich.
»Kein Problem«, nuschelt der Mann an meiner Seite. Er reicht mir eine Flasche Mineralwasser, die er irgendwo in seinemFußraum zu verstauen scheint. »Bitte sehr. Nehmen Sie einen Schluck. Flüssigkeit wird Ihnen guttun.«
Ich trinke. Der Taxifahrer macht einen freundlichen Eindruck. Und er gibt mir Kraft. Das Gefühl, einen Verbündeten vor meinem einsamen Gang in die Arena des heutigen Abends zu
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