Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
geschrien habe, damit eine Leserin mehr in mir sah als das, was ich für sie sein sollte: eine alberne Figur in einem Buch.«
»Bis ich gekommen bin«, sage ich.
Er nickt. »Ja, Delilah. Bis du gekommen bist.« Sogar mein Name klingt aus seinem Munde weicher, als wenn andere ihn aussprechen. »Ich verstehe dich wirklich«, sagt Oliver. »Sonst hättest du mich nie gehört.«
»Da bist du aber der Einzige. Mein Vater hat mich abserviert und meine Mutter hält mich neuerdings für verrückt.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht. Weil ich nicht beim Debattierclub mitmache oder am Freitagabend mit Typen ausgehe, die sich alle drei Teile von Der Herr der Ringe hintereinander ansehen und Elbisch können, sondern stattdessen meine ganze Zeit mit einem Buch vertrödle, das nicht altersgerecht für mich ist …«
»Na ja, ich bin nicht verrückt, und ich vertrödle meine gesamte Zeit in einem Buch, das nicht altersgerecht für mich ist …«
Das bringt mich zum Lächeln. »Vielleicht können wir gemeinsam verrückt sein.«
»Ja, vielleicht«, sagt Oliver mit einem breiten Grinsen. »Ich habe einen anderen Weg gefunden, hier herauszukommen.«
Meine Augen werden groß. »Wovon sprichst du?«, flüstere ich. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Weil du geweint hast«, antwortet er, ehrlich überrascht. »Das war wichtiger.«
Zach, der vegane Laborpartner, in den ich mich neulich noch verlieben wollte, ist letztes Mal, als wir gemeinsam das Klassenzimmer ansteuerten, nicht einmal auf die Idee gekommen, mir die Tür aufzuhalten. An Olivers Ritterlichkeit könnte ich mich glatt gewöhnen.
Oliver greift in sein Wams und zieht ein ledergebundenes Buch mit Goldlettern heraus – eine exakte Kopie des Exemplars, das ich gerade vor mir habe. »Das habe ich in einem von Rapscullios Regalen gefunden. Die Autorin hat es in die Illustration seiner Höhle gezeichnet, zusammen mit Hunderten anderen Titeln. Wenn man in die Geschichte vertieft ist, bemerkt man sie gar nicht – aber sie sind da. Und sie bleiben auch da, wenn das Buch zugeschlagen wird. Und schau«, – er blättert es durch, damit ich es sehen kann – »es ist absolut identisch, nicht wahr?«
Dem Anschein nach schon. Während Oliver die Seiten wendet, sehe ich Pyro Feuerbälle spucken und Frump durch den Zauberwald trotten, umschwirrt von Feen. Ich sehe auch eine winzige Illustration von Oliver am Steuer von Kapitän Crabbes Schiff, die Haare vom Wind zerzaust.
Ich frage mich, ob sich dieser klitzekleine erdichtete Prinz in diesem Augenblick wünscht, jemand möge ihn bemerken und aus seiner Geschichte herausholen.
»Es ist vollkommen logisch, dass ich mich nicht aus der Geschichte herausmalen konnte – weil ein Buch kein Gemälde ist. Aber du hast ja schon früher Dinge bemerkt, die ich in das Buch gezeichnet oder geschrieben habe – wie das Schachbrett oder die Botschaft an der Klippe. Wenn ich die Geschichte in meinem Exemplar umschreibe, ändert sie sich vielleicht auch in deinem .«
»Einen Versuch wäre es wohl wert«, sage ich.
»Was wäre einen Versuch wert?«
Die Stimme meiner Mutter dringt durch die Bettdecke, unter der ich mich versteckt habe. Ich tauche darunter hervor. »Nichts!«, antworte ich.
»Was hast du da drunter?«
Ich erröte. »Nichts, Mom. Wirklich!«
»Delilah«, sagt meine Mutter mit grimmiger Miene. »Nimmst du Drogen?«
»Was?«, japse ich. »Nein!«
Sie reißt die Decke weg und sieht das Märchenbuch. »Warum versteckst du das?«
»Ich verstecke es nicht.«
»Du hast unter der Bettdecke gelesen … obwohl niemand im Raum ist.«
Ich zucke die Achseln. »Ich habe eben gern meine Privatsphäre.«
»Delilah.« Mutter stemmt die Hände in die Hüften. »Du bist fünfzehn. Du bist viel zu alt, um süchtig nach einem Märchenbuch zu sein.«
Ich lächle sie matt an. »Aber … ist das nicht besser als wenn ich nach Drogen süchtig wäre?«
Betrübt schüttelt sie den Kopf. »Komm runter zum Frühstück, wenn du fertig bist«, sagt sie leise.
»Delilah …«, setzt Oliver an, sobald sich die Tür hinter meiner Mutter schließt.
»Nachher überlegen wir uns einen Plan«, verspreche ich. Ich schließe das Buch und vergrabe es in meinem Rucksack, ziehe mich an und binde mir die Haare hastig zum Pferdeschwanz. Unten in der Küche brät meine Mutter Spiegeleier. »Ich habe eigentlich keinen Hunger«, murmle ich.
»Dann möchtest du stattdessen vielleicht das hier.« Sie reicht mir einen Teller, auf dem kein
Weitere Kostenlose Bücher