Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Korridor, deshalb stecke ich das Buch in mein Wams, nehme rasch ein anderes und tue so, als würde ich es durchblättern, während mein Gastgeber den Tee bringt.
Meine ganze Bekanntschaft mit Delilah hat mit Worten angefangen – mit einer Botschaft, die in eine Felswand geritzt wurde. Wer sagt, dass sie nicht auch so enden kann?
Mag ja sein, dass ich mich nicht in eine andere Welt malen kann, aber vielleicht kann ich mich aus dieser Welt herausredigieren.
D elilah
Meine Mutter ist schuld daran, dass ich so versessen auf Märchen bin.
Nachdem mein Vater uns verlassen hatte, wurden meine Mom und ich süchtig nach Disney-Filmen, und zwar nach denjenigen Zeichentrickfilmen, deren Vorlage ein düsteres, gruseliges Märchen ist. In der Disney-Version springt die kleine Meerjungfrau nicht ins Wasser und löst sich in Schaum auf, sondern feiert eine prächtige Hochzeit auf einem Boot und segelt mit ihrem Prinzen für immer davon. Das Aschenputtel im Märchen hat zwei böse Stiefschwestern, von denen sich eine ein Stück von der Ferse, die anderen den Zeh abschneidet, um in Aschenputtels Schuh zu passen. Meine Mutter und ich brauchten den Weichzeichner von Disney. Wir saßen mit einer großen Schüssel Popcorn auf dem Sofa, eingehüllt in eine riesige Kuscheldecke, und entflohen in eine verzauberte Welt, wo Männer ihre Liebsten nicht sitzen ließen, sondern retteten. An einen Ort, wo es, so schlimm die Lage zunächst auch aussehen mochte, immer ein Happy End gab.
Es ist dumm, ich weiß, aber für mich war meine Mutter immer Disneys Cinderella. Sie putzte den ganzen Tag Wohnungen, und wenn sie dann nach Hause kam, half sie mir bei den Schularbeiten, kochte unser Abendessen oder wusch unsere Wäsche. Als ich noch kleiner war, erwartete ich jedes Mal, wenn es klingelte und der Mann vom Paketdienst oder der Briefträger oder der Pizzabote vor der Tür standen, einen Prinzen, der sie auf Händen tragen und in ein ganz neues Leben entführen würde.
Es ist nie passiert.
Ich denke nicht oft an meinen Vater. Er lebt jetzt in Australien mit seiner neuen Frau und seinen Zwillingsmädchen, die mit ihren blonden Locken und babyblauen Augen ein bisschen wie Prinzessinnen aussehen. Es ist, als hätte er sein eigenes Märchen wahr gemacht, am anderen Ende der Welt, ohne mich. Meine Mutter schwört zwar, es sei nicht meine Schuld, dass mein Vater uns verlassen hat, aber ich habe da meine Zweifel. Vielleicht war ich nicht intelligent genug oder hübsch genug … einfach nicht genug , um die Tochter zu verkörpern, die er sich gewünscht hat.
Ein- oder zweimal im Jahr träume ich allerdings von ihm. Es ist immer der gleiche Traum, in dem er mir Schlittschuhlaufen beibringt. Er fährt vor mir rückwärts und hält mich dabei an den ausgestreckten Händen, damit ich das Gleichgewicht nicht verliere. Du hast den Dreh raus, Lila , sagt er, denn so hat er mich immer genannt. Dann lässt er meine Hände los und zu meiner Überraschung falle ich nicht. Ich gleite einfach vorwärts, einen Fuß vor den anderen setzend, als würde ich fliegen. Schau , rufe ich ihm zu, ich kann’s ! Doch als ich aufblicke, ist er fort; ich bin ganz allein in der eisigen Kälte.
Nach diesem Traum wache ich immer zitternd auf. Und fühle mich furchtbar einsam.
Als es dieses Mal passiert, starre ich einen Augenblick an die Decke, dann rolle ich mich auf die Seite und nehme das Buch vom Nachttisch. Ich schlage es auf Seite 43 auf.
»Gott sei Dank!«, ruft Oliver. »Wo bist du gewesen?«
»Ich habe geschlafen«, sage ich.
Beim Anblick meines Gesichts stutzt er. »Was hast du denn?«
»Nichts.« Wie es scheint, gebe ich diese Antwort in letzter Zeit häufig.
»Und warum weinst du dann?«
Überrascht berühre ich meine Wangen und stelle fest, dass sie nass sind. Ich muss im Schlaf geweint haben. »Ich habe von meinem Dad geträumt.«
Oliver legt den Kopf auf die Seite. »Wie ist er denn so?«
»Ich habe ihn seit fünf Jahren nicht mehr gesehen. Er ist jetzt ein ganz anderer Mensch, mit einer neuen Familie. Einer neuen Geschichte.« Ich schüttle den Kopf. »Es ist idiotisch. Dein Buch hat mich vor allem wegen dieser einen Zeile am Anfang angesprochen, in der es heißt, dass du ohne Vater aufgewachsen bist. Dabei war Maurice wohl nie so richtig dein Vater. Sondern nur ein Schauspieler wie alle anderen.«
»Trotzdem weiß ich, wie man sich da fühlt«, sagt Oliver leise. »Wenn man übersehen wird. Du hast keine Vorstellung, wie oft ich in Gedanken
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