Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
er.
»Ich rette dir das Leben!«
»Es hat doch funktioniert!«
»Oliver, du hast begonnen, dich in meinem Zimmer zu materialisieren. Aber du warst so flach wie ein Pfannkuchen. Willst du wirklich so in meiner Welt leben?«
»Vielleicht habe ich nur so ausgesehen, weil es noch nicht fertig war«, wendet er ein. »Vielleicht wäre ich ganz am Schluss wie ein Hefeteig aufgegangen.«
»Selbst dann – wie hättest du es denn geschafft, dich komplett aus der Geschichte zu malen? Ganz am Ende hätten dein Arm oder deine Finger zurückbleiben müssen, damit die letzten Pinselstriche auf die Leinwand gelangen.«
Er sinkt zu Boden. »Daran hatte ich gar nicht gedacht.«
»Ich weiß«, sage ich traurig. »Es tut mir wirklich leid.«
Oliver sitzt mit angezogenen Knien da und lässt den Kopf hängen. Ich wünschte, ich könnte ihm erzählen, dass am Ende alles gut werden wird, aber das ist bloß in Märchen der Fall – und genau aus so einem versucht er zu fliehen.
»Vielleicht sollten wir es jetzt gut sein lassen«, flüstere ich, stelle das immer noch auf Seite 43 aufgeschlagene Buch auf meinen Nachttisch und krieche ins Bett.
»Delilah?« Olivers Stimme weht zu mir herüber. »Tust du mir einen Gefallen?«
Ich setze mich wieder auf. »Was immer du willst.«
»Kannst du bitte das Buch zuklappen?« Er sieht mich nicht an. »Ich wäre jetzt einfach am liebsten allein.«
Genau das habe ich eben zu meiner Mutter gesagt. Und sie hatte behauptet, eine solche Äußerung sei ein Anzeichen für Depressionen. Wenn ich bloß wüsste, wie ich Oliver helfen kann. Ob meine Mutter mir gegenüber ähnlich empfindet?
Ratlos nicke ich und erfülle seinen Wunsch so sanft wie möglich.
Seite 32
Oliver schlüpfte vorsichtig in die winzige Hütte, wo ihn Bücherstapel und ein Durcheinander aus Glasflaschen in allen Formen und Größen empfingen. Der alte Zauberer führte ihn in einen angrenzenden Raum, von dessen Dachbalken Unmengen getrocknete Kräuter und Blumen hingen. Mit der Zungenspitze befeuchtete er einen seiner knochigen Finger, legte ihn auf die staubige Seite eines großen, ledergebundenen Folianten und ließ ihn über die Zaubersprüche gleiten. Schließlich lächelte er, woraufhin sich auf seinem Gesicht noch Hunderte mehr Runzeln zeigten. »Ah«, sagte Orville. »Gibst du mir bitte diese Rubikon-Blume, mein Junge?«
Oliver hatte zwar keine Ahnung, was das war, deutete aber auf eine getrocknete orangefarbene Knospe auf dem Arbeitstisch vor sich. Auf Orvilles Nicken hin reichte er sie dem Zauberer, der sie zwischen den Handflächen rieb, bevor er die Blütenblätter in eine große Holzschüssel rieseln ließ.
»Und die drei Flaschen zu deiner Linken.« Orville mischte und rührte, probierte und kostete. »Und den Flakon zu deiner Rechten – nein, Vorsicht damit!«, warnte ihn Orville, denn Oliver zuckte zurück, als er spürte, wie heiß das Glas war. Ein Blick nach unten zeigte ihm, dass sich sein Fingerabdruck als Kringelmuster auf dem Glas eingebrannt hatte.
Orville nahm eine Pipette und tauchte sie in den Flakon, dann zählte er drei glühend heiße Tropfen in die Holzschüssel ab. Sie lösten sich zischend und puffend in Luft auf und hinterließen eine orangefarbene Feuerwand. Orville schaute blinzelnd mitten in die Flammen, als sich in ihrem heißen Herzen, dort, wo sie blau brannten, Umrisse bildeten.
Oliver konnte einen Turm erkennen und daneben einen feuerspeienden Drachen. Aber wo befand sich der Turm? Allein in diesem Königreich musste es Hunderte davon geben. Die Flammen züngelten, und da sah Oliver sie: die Steilklippe an der Küste mit den zerklüfteten Felsen an ihrem Fuß und der wogenden Brandung. Der Turm von Timble war ein ehemaliger, längst aufgegebener Wehrturm – und der einzige Turm, der auf einer Steilklippe stand. Oliver kannte den Ort genau.
»Danke!«, rief Oliver und stürzte zur Tür hinaus.
Einen Augenblick später erklang Hufgetrappel, Oliver preschte davon. Orville wandte sich erneut den Flammen zu, die unentwegt neue Formen und Gestalten annahmen. Jetzt sah der alte Zauberer schwarzes Haar, das über ein böse blickendes Auge fiel, eine Narbe, die sich von der Stirn bis zur Wange zog, ein boshaftes Grinsen. Er erstickte das Feuer mit Stärkemehl und eilte nach draußen, doch es war bereits zu spät.
Prinz Oliver war fort. Er würde auf eigene Faust herausfinden müssen, dass seine Prinzessin nicht allein war.
O liver
»Soll das ein Scherz sein?«, begrüßt mich
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