Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Rapscullio, als ich ihn zum dritten Mal kurz hintereinander aufsuche. »Was brauchst du denn nun schon wieder?«
Ich möchte nicht hier sein. Ich möchte nirgendwo in diesem dämlichen Märchen sein. Und doch bin ich wieder da, wo ich angefangen habe. Eigentlich hatte ich geglaubt, ich hätte möglicherweise einen Ausweg aus diesem Gefängnis gefunden, aber Delilah hat recht. Ich kann nicht derjenige sein, der mich in die Freiheit malt, und es gibt auch sonst niemanden, dem ich diese Aufgabe anvertrauen könnte, also muss ich vorerst hierbleiben.
Ich wollte mit Delilah reden, doch sie schlief tief und fest – meine eigene Schuld, ich hatte sie ja gebeten, das Buch zu schließen. Kaum war sie fort, versank ich in tiefe Traurigkeit, weil ich glaubte, nichts tun zu können, um meine Lebensumstände jemals zu ändern. Meine üblichen Freizeitbeschäftigungen – Schach spielen, lange Spaziergänge, ein erfrischendes Bad im Meer – konnten mich nicht ablenken. Und dann dachte ich an Delilah.
Wenn sie ihrem Leben entfliehen wollte, las sie Bücher. Wie dieses hier zum Beispiel.
Königin Maureen hatte erwähnt, dass Rapscullios Höhle eine richtige Bibliothek beherbergte – in einem Teil der Höhle, zu dem ich nie vorgedrungen war, weil mich seine magische Leinwand so unwiderstehlich angezogen hatte. Aber wenn Delilah in Büchern Zerstreuung fand, funktionierte das womöglich auch bei mir.
»Ich suche nach einem schönen Schmöker«, erkläre ich Rapscullio. »Wie ich gehört habe, hast du eine ziemlich große Auswahl.«
Ein Strahlen geht über Rapscullios Gesicht. »Oh ja, so ist es. Troubadourballaden und Volksmärchen mag ich am liebsten, aber in meinen Regalen findet sich ein wenig von allem: Liebesgeschichten, Gruselromane, Komödien. Sogar ein paar Stücke von einem gewissen Shakespeare sind dabei. Gar nicht mal schlecht, der Bursche.«
»Darf ich vielleicht ein bisschen herumstöbern?«, bitte ich ihn. »Ich weiß nicht so genau, wonach ich suche.«
»Nur zu«, lädt mich Rapscullio ein und deutet mit einem seiner dürren Arme zu einem Tunnel im hinteren Teil der Höhle. »Schau dich in Ruhe um und ich koche uns inzwischen Tee. Kamillentee. Du wirkst in letzter Zeit ein bisschen … angespannt.«
»Ich möchte dir keine Umstände machen …«
»Das tust du nicht.« Er stößt mich mit dem Ellbogen in die Seite und grinst mit der einen Mundhälfte; die andere Gesichtshälfte ist durch die Narbe gelähmt. »Vielleicht erzählst du mir ja noch mehr von deinem Mädchen.«
»Mädchen?« Ich kann ihm nichts von Delilah erzählen. Sie ist sozusagen mein ganz persönliches Geheimnis. Es ist, als würde ich einen Teil von ihr preisgeben, wenn ich jemandem hier im Märchen ihre Existenz erklärte.
»Diejenige, für die ich das Bild malen sollte …«
»Ach klar.« Das Mädchen, das ich mir als Vorwand ausgedacht habe. Ich warte, bis Rapscullio seinen Teekessel unter einem Haufen alter, modriger Landkarten auf einem mächtigen Tisch ausgegraben hat, dann drehe ich mich um und gehe geduckt durch den schmalen Durchgang in einen anderen Teil der Höhle.
Der kleine Raum ist muffig und klamm. In Regalen aus knorrigem Walnussholz, die vom Boden bis zur Decke reichen, stehen unzählige Bücher nebeneinander und aufeinandergestapelt. Es gibt Bände über Astronomie und über Insektenarten und ein ganzes Regalbrett voll über die Maler der Renaissance. Bei manchen lese ich die Aufschrift auf dem Buchrücken. Eine Weltgeschichte der Pflanzenkunde. Krieg und Frieden. Eine Geschichte aus zwei Städten .
Rapscullios Teekessel beginnt zu pfeifen. Er kann jede Minute hier sein, und dann soll ich ihm von einem erfundenen Mädchen vorschwärmen, das irgendwo in diesem Königreich lebt. Ich rucke an einem Buch. Vielleicht inspiriert mich ja einer der Romane hier zu einer plausiblen Geschichte.
Als ich es ganz herausziehe, purzelt ein zweites Buch auf den Boden, das dahinter eingeklemmt war. Ich hebe es auf, klopfe den Staub ab und will es gewissenhaft zurückstellen, doch da fällt mir auf, dass ich es schon einmal gesehen habe.
Es ist in rotes Leder gebunden und mit Goldschrift versehen.
Mein Herz zwischen den Zeilen lese ich auf dem Einband. Ich schlage es auf und sehe ein Bild von mir auf der ersten Seite, als würde ich in einen Spiegel blicken. »Es war einmal«, sage ich laut vor mich hin.
Vielleicht inspiriert mich ja einer der Romane hier.
»Milch oder Zucker?« Ich höre Rapscullios Schritte in dem engen
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