Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Exemplar von Mein Herz zwischen den Zeilen , das ich Rapscullio gestohlen habe und das mir während meiner Rauferei mit Frump aus dem Wams gerutscht sein muss.
Das Pandämonium fährt mit voller Gewalt in die Seiten, doch der Buchrücken federt den Aufprall ab. Delilah schlägt das Buch zu und fängt darin das Licht ein. »Hab ich dich, widerliches Ding«, sagt sie triumphierend und drückt sich das Buch an die Brust.
Das Buch beginnt so stark zu vibrieren, dass Delilah es nur unter Mühe geschlossen halten kann. Ich trete einen Schritt auf sie zu, um es ihr abzunehmen, doch bevor ich dazu komme, entwindet sich das Märchenbuch ihrem Griff und springt weit auf. Das Pandämonium zischt nach oben und reißt ein Loch in das Dach von Orvilles Hütte. Dreck, Äste und Steine regnen herab. Ich schütze meine Augen mit der Hand und strecke den Arm nach Delilah aus, um sie in Sicherheit zu bringen. Aber ich bekomme sie nicht richtig zu fassen. Kaum hat sich das Buch nämlich ihrem Griff entrissen, sind ihre Hände mitten in der Bewegung erstarrt, und ein dicker Riss zieht sich durch ihren Arm. Dieser breitet sich nun aus und verzweigt sich an ihren Schultern, um anschließend ihren Hals hinaufzukriechen und ihr Gesicht zu spalten, ihre aufgerissenen Augen, ihren offenen Mund. Ich sehe es wie in Zeitlupe – das Buch segelt zu Boden und als es unten ankommt, zerspringt Delilah in tausend Stücke. Zurück bleibt nichts als Staub.
D elilah
Das Erste, was ich sehe, als ich die Augen öffne, ist das Buch, das aufgeschlagen unter meinem Bett hervorlugt.
Ich rolle mich vom Bauch auf den Rücken und blinzle hoch zu einer rosafarbenen Zimmerdecke mit kleinen Sternen, die im Dunkeln leuchten. »Mein Zimmer«, hauche ich.
Es hat funktioniert. Unser Plan ist aufgegangen.
»Ja, natürlich ist das dein Zimmer«, höre ich die Stimme meiner Mutter.
Ich versuche mich aufzusetzen, doch ihre Hand drückt mich wieder in die Kissen. »Mach langsam, Delilah«, sagt eine Stimme, die ich nicht recht einordnen kann, die mir aber bekannt vorkommt.
Als ich nach links blicke, sehe ich neben meiner Mutter Dr. Ducharme stehen.
Meine Mutter setzt sich auf die Bettkante. »Du hast eine scheußliche Beule am Kopf«, sagt sie. »Offenbar bist du gestürzt, als du deine Schachtel mit den Videos aus dem Schrank holen wolltest.«
Als ich mir an die Stirn fasse, zucke ich zusammen. Es tut weh. »Wie lange war ich weg?«
»Weg?« Dr. Ducharme grinst. »Na ja, du hast geschlafen – aber du bist nirgendwo sonst gewesen. Deine Mom hat gestern Abend sogar einen Arzt dazu gebracht, einen Hausbesuch zu machen, um sicherzugehen, dass dir nichts weiter passiert ist. Und als du angefangen hast, im Schlaf zu sprechen, hat sie mich angerufen.«
Ich kämpfe mich zum Sitzen hoch. »Worüber habe ich gesprochen?«
Sie wechseln einen Blick. »Das spielt keine Rolle«, sagt meine Mutter. »Du brauchst jetzt Ruhe. Und wirst wahrscheinlich ziemliche Kopfschmerzen bekommen.«
Ich luge über ihre Schulter und erhasche einen Blick auf mich im Spiegel. Auf meiner Stirn prangt eine riesige Beule und der Bluterguss ist auch nicht von schlechten Eltern.
Aber ich kann mir nicht bloß den Kopf gestoßen haben. Ich war mit Oliver in dem Buch. Das weiß ich ganz genau.
Ich versuche mich zu erinnern. Was mag passiert sein? Ich weiß nur noch, dass wir in Orvilles Hütte waren und ich es geschafft habe, das Pandämonium wieder einzufangen. Fast unmittelbar darauf hatten meine Arme zu bröseln begonnen, lauter feine Risse waren entstanden, wie bei einer Marmorfigur. Ich keuche auf und fasse mit der linken Hand nach meinem rechten Arm.
Er ist vollkommen unversehrt.
Was geht hier bloß vor sich?
»Was für ein Tag ist heute?«, frage ich.
»Dienstag«, erwidert meine Mutter. »Es ist fast drei Uhr.«
»Ich, ähm, ich habe einen Riesenhunger …«
»Dann mache ich dir was zu essen.« Zuerst aber umarmt sie mich rasch. »Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren«, flüstert sie.
Meine Arme schließen sich um sie. »Ich auch«, murmle ich.
Sie steht auf, und als sie das Zimmer verlässt, legt Dr. Ducharme seine Hand auf ihre Schulter.
Irgendetwas an dieser beiläufigen Geste erleichtert mich. Während ich mich in dem Buch aufhielt, hatte ich mir Sorgen gemacht, weil meine Mutter nun ganz allein war. Aber vielleicht würde sie das eines Tages nicht mehr sein.
Sobald ich höre, dass sich die Tür schließt, krabble ich unter das Bett und schnappe mir das Buch. Beim
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