Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
vom Fensterbrett ab, um gleich darauf fast erschrocken den Baumstamm zu umklammern. Ich rutsche hinunter und denke dabei an Oliver, der andauernd eine Felswand hinaufklettern muss.
Mit einem dumpfen Schlag komme ich auf dem Boden auf und laufe auf Zehenspitzen die Straße entlang bis zu der Sackgasse, in der Jules mit dem Auto auf mich wartet, wie wir es verabredet haben. Sie am Steuer eines Autos zu sehen ist seltsam. Kaum hat sie mich entdeckt, grinst sie und lässt per Knopfdruck das Fenster herunter. »Du stehst ganz schön in meiner Schuld«, sagt sie.
Ich hätte sie vollkommen anders eingeschätzt, aber Jules fährt wie eine alte Oma. Sie schleicht dahin, fünfzehn Stundenkilometer langsamer als die erlaubte Geschwindigkeit, und setzt den Blinker schon eine Ewigkeit, bevor sie abbiegt. »Also«, sagt sie, als wir uns seit zehn Minuten auf der Autobahn befinden, »wann erzählst du mir endlich, wo wir hinfahren?«
»Nach Wellfleet«, antworte ich. »Auf Cape Cod.«
Jules nickt und spreizt über dem Lenkrad die Hände. »Gut«, sagt sie. »Und warum fahren wir dahin?«
Ich hole tief Luft. »Was ich dir jetzt erzähle, wird dir ziemlich verrückt erscheinen«, erkläre ich. »Aber du musst dir die ganze Geschichte anhören, ohne mich zu verurteilen, ja?«
Wortlos hält Jules die rechte Hand in die Höhe zum großen Indianerehrenwort.
Ich beginne ganz am Anfang. Ich erzähle ihr von dem elektrischen Schlag, den ich bekommen habe, als ich zum ersten Mal den Rücken des Märchenbuchs berührte, und dass ich es, obwohl es ein Kinderbuch war, nicht mehr aus der Hand legen konnte. Ich erzähle ihr von Oliver, dem Prinzen, der wie ich vaterlos aufgewachsen ist. Ich erkläre ihr, wie sich eines Tages vor meinen Augen die Illustrationen veränderten und wie ich plötzlich hören konnte, was Oliver zu mir sagte – Worte, die nicht für ihn geschrieben worden waren, sondern aus dem Herzen kamen.
Ich erzähle ihr von der Spinne, davon, wie das Buch Feuer fing, und wie ich schließlich in das Buch hineingesogen und dann wieder herauskatapultiert wurde.
Ich erzähle ihr, dass ich mich einfach in Oliver verliebt habe.
Als ich fertig bin, starrt Jules immer noch schweigend vor sich auf die Straße.
»Und?«, sage ich.
Jules antwortet nicht.
»Du hältst mich für verrückt.«
Jules zuckt die Schultern. »Nein.«
»Mehr sagst du nicht?«, frage ich ungläubig. »Du glaubst mir also?«
»Nun ja«, entgegnet sie. »Ich glaube dir, dass du es glaubst. Und ich bin deine beste Freundin. Das muss genügen.«
Während der nächsten paar Stunden scheint alles fast normal. Meine beste Freundin ist wieder meine Freundin; ich muss ihr nicht vormachen, dass dieses Buch mir nichts bedeutet. Es ist wie in alten Zeiten. Jules und ich spielen Ich sehe was, was du nicht siehst und essen eine ganze Tüte Erdnussflips, die sie von zu Hause mitgenommen hat. Schließlich sagt uns das Navi, dass wir unser Ziel erreicht haben. Jules fährt auf der Hauptstraße von Wellfleet rechts ran und schrammt dabei mit den Reifen am Randstein entlang.
»Du hast die Fahrprüfung nicht bestanden«, scherze ich.
»Aber stell dir mal vor, wie viele Stunden Fahrpraxis ich jetzt gesammelt habe!«, sagt Jules. Sie blickt in den Rückspiegel. »Und was machen wir jetzt?«
Tja. Darüber bin ich mir noch nicht recht im Klaren. Die genaue Adresse von Jessamyn Jacobs habe ich nicht, ich weiß nur, dass sie in dieser Stadt lebt. Aber eines weiß ich genau – dass ich von jetzt an ohne Jules weitermachen muss. Sie hat schon genug für mich getan. Ich werde sie nicht weiter in diesen Schlamassel mit hineinziehen. »Nicht wir«, sage ich. »Nur ich.«
»Ich lasse dich hier aber nicht allein.«
Ich schüttle den Kopf. »Jules, deine Eltern werden dich sowieso schon umbringen, weil du das Auto deines Vaters geklaut hast.«
Sie lacht. »Das genau war ja mein Plan. Lieber verbringe ich den Sommer in einem Erziehungscamp als bei Tante Agnes.«
Sie löst ihren Gurt und steigt aus dem Auto, während ich meinen Rucksack schultere. »Schaffst du die Rückfahrt allein?«, frage ich. »Bald wird es dunkel.«
»Ist ein Klacks für mich«, sagt Jules.
Ich schließe sie fest in die Arme. »Danke«, flüstere ich und sehe zu, wie sie ins Auto steigt und den Blinker setzt, um loszufahren.
Vorher lässt sie noch die Scheibe herunter. »Ich hoffe, du findest ihn«, sagt Jules lächelnd. »Deinen Prinzen.«
Im Stadtzentrum gibt es ein kleines Café. Als ich es
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