Mein Herz zwischen den Zeilen (German Edition)
Hinsetzen sehe ich mich im Spiegel. Aus dem Ausschnitt meines T-Shirts lugt etwas hervor, das auffallend – und erschreckend – einem Tattoo ähnelt.
Ich ziehe den Ausschnitt herunter, obwohl ich es lieber gar nicht sehen möchte.
Um meinen Hals zieht sich ein Buchstabenband in Spiegelschrift. Ich schiebe einen Fingernagel unter eine Ecke davon und ziehe es wie ein Pflaster von meiner Haut ab. Dann drapiere ich es auf mein Laken.
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Genau wie bei der Spinne, die ich vor ein paar Tagen aus dem Buch gezogen habe, hat sich die Halskette der Meerjungfrauen hier draußen in Wörter verwandelt. Aber ich habe doch in Orvilles Hütte einen Blick auf Olivers Zukunft erhascht: Er war hier in der realen Welt gewesen und er hatte nicht nur aus Buchstaben auf einer Seite bestanden.
Konzentrier dich, Delilah , ermahne ich mich. Ich nehme das Buch und schlage es auf Seite 43 auf, wo mir Oliver mit offensichtlicher Erleichterung entgegenblickt.
»Du lebst!«, ruft er.
»Was ist passiert?«, frage ich. »Es ist wirklich passiert, oder?«
Olivers Gesicht verdüstert sich. »Erinnerst du dich etwa nicht?«
»Doch«, flüstere ich. »Ich wollte bloß sicher sein, dass ich das nicht alles erfunden habe.«
»Nur weil es Fiktion ist, ist es nicht weniger wahr«, erwidert Oliver. Er schielt zu mir her. »Bist du verletzt?«
»Nur ein Bluterguss«, erkläre ich. Aber das erinnert mich an das Pandämonium und die Verwüstung, die es angerichtet hat. »Und du? Bist du in Ordnung? Und Orville? Schade um seine Hütte!«
»Alles wieder heil«, sagt Oliver. »Kaum hast du das Buch geöffnet, war alles wieder so wie immer.« Er wendet den Blick ab.
»Auch Frump?«, will ich wissen.
Oliver nickt. »Nur ein Hund.«
»Aber es hat funktioniert, Oliver. Dein Exemplar des Märchens explodieren zu lassen hat mich befreit.«
»Und ich bin immer noch hier«, sagt er traurig. »Wir sind also wieder da, wo wir angefangen haben.«
»Nein, sind wir nicht. Erinnerst du dich an deinen Blick in die Zukunft? Ich weiß, wer diese Frau ist. Jessamyn Jacobs.«
»Wer?«
»Die Autorin«, erkläre ich ihm. »Die Frau, die dich erschaffen hat.«
Olivers Blick hellt sich auf. »Also ist das ihr Haus, in dem ich dort bin?«, fragt er.
Bevor ich antworten kann, höre ich Schritte auf der Treppe. »Suppe!«, trällert meine Mutter.
Ich schlage das Buch heftig zu, stopfe es unter das Kissen und zerre die Bettdecke über mich. Die Tür öffnet sich knarrend. »Danke«, sage ich. Dann esse ich einen Löffel Suppe, damit meine Mutter zufrieden ist.
Sie setzt sich auf die Bettkante und sieht zu, wie ich mir Löffel um Löffel in den Mund schiebe. Ich tupfe mir die Lippen mit einer Papierserviette ab. »Du willst ja wohl nicht hier warten, bis ich fertig gegessen habe, oder?«
Meine Mutter blickt verlegen drein. »Ja. Ich meine, natürlich nicht.« Sie zögert. »Ich will bloß nicht, dass du einschläfst. Steve sagt, das sei nach einer Gehirnerschütterung das Gefährlichste.«
Steve? »Mom«, sage ich. »Wann hast denn du zum letzten Mal geschlafen?«
»Um mich brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, sagt sie und drückt meine Hand.
» Brauche ich vielleicht nicht«, erwidere ich. » Tue ich aber.«
Sie lächelt, rührt sich jedoch nicht von der Stelle.
»Mom?«, sage ich. »Wenn ich verspreche, dass ich nicht einschlafe, kann ich dann allein essen?«
Widerstrebend steht sie auf. »Ruf mich, wenn du fertig bist«, sagt sie.
Die angekündigten Kopfschmerzen machen sich jetzt bemerkbar. Ich weiß, dass Oliver von mir erwartet, dass ich das Buch aufschlage und unser Gespräch fortsetze, aber vorher muss ich noch etwas erledigen. Mit vorsichtigen Bewegungen steige ich aus dem Bett und gehe zum Schreibtisch, auf dem mein Laptop steht. Ich öffne eine Suchmaschine und gebe Jessamyn Jacobs ein, woraufhin eine Liste sämtlicher Websites erscheint, in denen sie vorkommt. Als ich die Erste davon anklicke, sehe ich ein Foto der Frau aus Olivers Zukunftsvision auf dem Bildschirm. Ich lese den Text darunter:
Jessamyn Jacobs wurde 1965 in New York geboren. Nach ihrem Abschluss an der New York University arbeitete sie zunächst als Redakteurin bei der Zeitschrift HorrorFest . Sie merkte jedoch bald, dass sie nicht die Texte anderer Menschen korrigieren, sondern ihre eigenen schreiben wollte. Als ihr erster Kriminalroman erschien, war sie erst 26 Jahre alt. Danach schrieb sie zehn Bestseller in Folge. Nach der Veröffentlichung
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