Mein ist dein Herz
dir ein Verweilen im Märchen bestätigt?«
Stumm nicke ich, bis mir klar wird, dass sie das ja gar nicht sieht und ich meine Zustimmung verbalisieren muss.
»Märchen ... diese Umschreibung trifft es so ziemlich genau«, stimme ich ihr zu. »Ich kann es einfach nicht glauben, dass dies der Realität entspricht.«
»Dann sind wir schon zwei.«
»Wo ist der Haken, Jane? Wieso kann ich bei dir keinen einzigen Makel ausmachen?«
»Weil du mich noch nicht kennst?«, schlägt sie eine Möglichkeit vor.
»Und genau das möchte ich ändern. Du sollst kein unlösbares Geheimnis für mich darstellen ... ich sehne mich nach Klarheit im Bezug auf deine gesamte Gefühlswelt. Dich so gut kennenlernen, wie kein anderer zuvor.«
Der Blick aus ihren grünen Augen ist unergründlich. Ich sehe auch den inneren Hader, wohlahnend, dass meine Forderung nicht nur eigen, sondern allem voran sehr egoistisch ist. Dennoch besiegelt ein Schulterzucken ihrerseits mein Glück und ich atme endlich erleichtert auf.
»Was willst du denn wissen?«
»Wie wäre es mit der Wahrheit: Wer oder was ist Janessa Bears?«
Z ugegeben ein übersinnliches Geständnis blieb aus, ich erfahre jedoch sehr viel Hintergrundinformationen zu meinem persönlichen kleinen Engel.
Janessa ist die älteste Tochter einer vierköpfigen Familie. Ihre Mutter ist eine gebürtige Engländerin, der Stiefvater stammt aus Deutschland und die zehn Jahre jüngere Schwester ist das gemeinsame Kind aus dieser Ehe.
Bereits mit achtzehn zog Jane von Zuhause aus, weil die Differenzen zwischen ihr und ihrem Vater zu groß waren, und geriet eher aus Zufall an einen Ingenieur für Elektronik, der ihre Ausbildung finanzierte. Seine ganze Familie hat Jane bald schon in ihr Herz geschlossen und stand ihr während der kompletten Ausbildungszeit mit Rat und Tat zur Seite.
Sie können sich bestimmt vorstellen, wie überrascht ich war, als mir zu Ohren kam, dass Jane sehr oft Hunger und Geldnot litt und manchmal sogar im Auto neben der Firma übernachten musste, weil ihr Tank leer war. Dadurch bekommt ihr magerer Anblick eine ganz neue Nuance. Weil es keine Eitelkeit war, die sie dazu gebracht hat, diese ›Formen‹ anzunehmen. Es war das Leben höchstpersönlich, dass ihr anstelle eines unbekümmerten Lächelns jene Traurigkeit ›schenkte‹, welche immer dann ihr Gesicht ziert, wenn sie an ihre Vergangenheit zurückdenkt.
Gerade als sie bei der Erzählung ankommt, wie sie zu ihrem jetzigen Job gekommen ist, kann ich nicht mehr an mich halten. Ich ziehe sie in meine Arme und wiege sie auf meinem Schoß.
Zu gerne würde ich in der Zeit zurückgehen, sie ähnlich wie jetzt umarmen und vor all der Kälte beschützen, die sie nicht einmal beschreiben muss, damit ich von deren Existenz erfahre.
Dieses zerbrechliche Ding, mit den fragilen Schultern und einem Blick, der zuweilen viel zu sehr nach innen gekehrt ist, hat zu viel erlebt, um einfach nur zwanzig Jahre jung zu sein. In ihrem Denken und Fühlen ist sie weitaus älter, als ihre Altersgenossinnen und dementsprechend auch ›anders‹. Und das ist es, was mich dermaßen fasziniert. Eine grausame Erleuchtung ...
Überhaupt rückt so viel ins rechte Licht ...
Irgendwann muss ich gar nicht mehr nachfragen, sie erzählt mir ihre Lebensgeschichte von alleine. Allerdings erkenne ich wenige Augenblicke nach Anbruch der Dunkelheit, dass diese Sachen viel zu oberflächlich gehalten sind. Die Gewissheit, dass ihre Kindheit kein Zuckerschlecken war, stützt sich auf den Kontext ihrer Geschichte. Ihre Stimme, die Haltung und Wortwahl zeugt von absoluter Ruhe, obwohl sie zugibt, nahezu keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie zu haben. Selbst Ihre ›Armut‹ offenbart sie mir mit einem Lächeln.
Ich brauche eine gefühlte Ewigkeit, bis klar wird, dass sie einfach getrimmt ist. Seit der Kindheit darauf abgerichtet, stets stark und freundlich zu sein. Und wenn ich ihre Worte aus dieser Perspektive ausleuchte, meine ich wirklich die ganzen dunklen Flecken zwischen den Zeilen vernehmen zu können. Da ist viel mehr, was schief ging in ihrem Leben. Angefangen von ihrem leiblichen Vater, den sie mit keinem Wort erwähnt hat, bis hin zu Tyler, den sie ebenfalls vollkommen außen vor lässt. Diese Erkenntnis legt sich wie eine eiskalte Hand um mein Herz und presst es schmerzhaft zusammen.
Es gibt für mich nur einen Weg, um diesen Würgegriff zu lockern: Ein Schwur an mich selbst, den ich, koste es, was es wolle, einhalten werde.
Solange ich lebe,
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