Mein ist der Tod
der Name des Sängers das Spiel nicht frei?
Herking hatte kaum mehr geschlafen, seit Saskia ermordet worden war. Die ungeheure Brutalität der Tat hatte er anfangs verdrängt, langsam war sie ihm bewusst geworden. Obwohl ihn eine ausschließlich kollegiale Beziehung mit der jungen Frau verbunden hatte, fühlte er sich sterbenselend. Er wollte sich von dem Mord nicht einschüchtern lassen und zwang sich, weiter zu funktionieren, aber man sah ihm die Erschöpfung der letzten Tage an. Seine Auskünfte an die Polizei hatten sich auf die biografischen Daten der Toten beschränkt, und er war den Beamten dankbar dafür gewesen, dass ihre Kollegen in Dresden die Mitteilung an Frau Runges Eltern übernehmen wollten.
Jetzt schien ein Troubadour des zwölften Jahrhunderts an Saskias Seite zu treten. Herking schloss die Augen. Er wusste, dass die beiden Figuren zusammengehörten, die enthauptete Journalistin und der Sänger, der in Dantes Hölle seinen eigenen Kopf an den Haaren vor sich her trug wie eine Laterne. Dennoch kam er mit Bertram dal Bornio nicht weiter.
Wieder nahm er den Computer zu Hilfe. Die Metasuchmaschine seines Pressenetzes warf einen alternativen Namen des Troubadours aus; sie bot an, statt nach Dantes Vorbild für die Figur, Bertram dal Bornio, zu fragen, den dichtenden Ritter unter seinem französischen Namen Bertran de Born zu recherchieren.
Als er diese Version in das Spiel Mein ist der Tod eingab, startete zur Musik von Donizettis Oper Anna Boleno ein Video. Herking hörte die Arie der Anne Boleyn – Va, infelice – auf dem Weg zu ihrer Enthauptung und erkannte nach wenigen Takten die Aufnahme mit Maria Callas und dem Orchester der Mailänder Scala: Trauermarschmusik.
Der Film zeigte die gemalte Uferlandschaft eines Flusses im Licht eines sonnigen Vormittags. Der Schatten der Weiden fiel über einen Kahn, der ruhig im Schilf lag. Die Kamera, die man zugleich in einem winzigen Ausschnitt links unten ansehen konnte, bewegte sich mit der federnden Bewegung von Schritten auf den Kahn zu. Sie richtete sich aus nicht allzu großer Höhe auf den Bug aus und neigte sich langsam. Das dunkle Innere des Bootes wurde sichtbar und hellte sich auf.
Wieder spürte Herking an seinem Herzschlag die Furcht, die ihn erfasste. Er ahnte, dass er sich etwas näherte, das er nicht sehen wollte.
Mit den Steuertasten der Tastatur konnte er das Bild nach oben und unten, nach links und rechts schwenken. Er lenkte die Kamera nach unten. Sie nahm sich seine Augen und zoomte selbstständig heran: kurze blonde Haare, nass und von Blut verklebt. Das Weiß der Stirn. Die Arie änderte jetzt Rhythmus und Tempo, bekam etwas Hastiges.
Er schlug auf die Taste mit dem Aufwärts-Pfeil. Die Kamera wich zurück, riss sich los, kippte hoch und blickte auf das flirrende Licht in den Bäumen. Er steuerte sie wie unter einem inneren Zwang abwärts. Sie beugte sich wieder über das Gesicht. Am unteren Bildrand trat ein Schuh gegen die Kahnwand. Das Boot schaukelte, im Bilgewasser auf seinem Boden rollte Saskias Kopf hin und her, als wollte sie etwas verneinen. Zugleich schwang sich die Callas zum Ende ihrer Arie auf, das Orchesterfinale der Oper erklang, und über den Kopf der Toten rauschte der Beifall.
Wilfried Herking stand auf und wich langsam vom Schreibtisch zurück. Ihm schien der Film eine Ewigkeit zu dauern, doch es waren kaum drei Minuten vergangen. Der Applaus ebbte ab, das Bild wurde schwarz. Sofort startete die Videoschleife neu.
Swoboda schaltete sein Telefon aus.
Das war Herking. Ich glaube, ich habe ihn überfordert.
Michaela Bossi hatte im Sessel abgewartet, bis sein Gespräch beendet war.
Er ist ein kluger Typ und nicht unbedingt mutig, sagte Swoboda, aber manchmal hat er Courage, und dann hält er sie selbst nicht aus.
Klingt kompliziert.
Ist es auch. Er hat das Computerspiel geknackt und etwas gesehen, was er besser nicht gesehen hätte. Er braucht uns. Kommst du?
Sie stand auf. Irgendwie lief dieser Samstagmorgen anders, als sie ihn sich ausgemalt hatte.
Als sie vor die Tür der Prannburg traten, ließ der Wind ihre Mäntel flattern. Swoboda blickte nach oben und sagte:
Endlich. Jetzt treibt es die Wolken weg, und übermorgen hat sich das Wasser verlaufen.
TAGEBUCH
Ich lebe jetzt 18350206 Minuten. Die Zahl kann um ein paar Hundert Minuten hin oder her falsch sein. Mit bald fünfunddreißig Jahren sollte man sich allmählich fragen, was man aus seinem Leben machen will.
Wer will ich sein?
Ich wollte nie
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