Mein ist der Tod
mehrere Gewissheiten unausgesprochen. Freya war sich sicher, dass ihr Bruder ein Mörder war. Der hatte keinen Zweifel, dass Günther Korell sich den umfänglichen Besitz der Paintners aneignen wollte. Und Korell wusste mehr über die beiden Alten als sie voneinander. Seine Lebensgeschichte hatte ihn zu einem Mann werden lassen, der geradezu gierig nach Informationen über Menschen war, von denen er sich abhängig fühlte. Das Internet war perfekt für ihn.
So hatte er in Erfahrung gebracht, dass Gernot Paintner, bei Kriegsende einundzwanzig, noch Ende März 1945 Mitglied der 38. SS-Grenadier-Division Nibelungen geworden war, das letzte Aufgebot der SS-Junkerschule Bad Tölz. Offenbar hatte ihm das nach dem Krieg in Zungen eher genutzt als geschadet.
Freya hatte er selbst aushorchen müssen. An einem ihrer ersten gemeinsamen Abende, an dem es ihm gelungen war, sie zum Genuss einer halben Flasche Sauvignon zu verleiten, hatte sie ihm von dem senegalesischen Soldaten erzählt, dem sie im Januar 1945 im Fischerhaus von Alois Dietz begegnet war. An ihre schwärmerisch ausgemalte Liebesgeschichte mit Yoro Mboge, die nur drei Monate dauern durfte, hatte sie ihre Zweifel an seiner heimlichen Flucht, ihre dunkle Ahnung seines Todes, dann mit ebenso leuchtenden Augen und roten Flecken auf den Wangen die Geschichte des Hasses auf ihre Familie angeschlossen. Korell hatte gesehen, dass der Hass ihre Augen stärker leuchten ließ als die Liebe, und sich vorgenommen, eine seiner täglichen Lauftouren an den Flussufern mit einem Umweg über die Fischerhäuser zu erweitern.
Freya brach das Schweigen und wiederholte: Umgebracht. Ermordet. Arme und Beine gebrochen. Den Schädel eingeschlagen. Die Leiche unter den Brettern des Fußbodens im Fischerhaus von Alois Dietz versteckt. Alois Dietz in die Nelda gestoßen. Der zweite Mord. Hast du jetzt verstanden, worüber ich mit dir spreche?
Paintner beugte sich im Sessel nach vorn, als ob er nachdenken müsste. Er schüttelte den Kopf und richtete sich auf.
Keine Ahnung.
Er atmete ruhig und tief ein und lehnte sich zurück.
Wirklich. Ich weiß nicht, was du meinst.
Korell beobachtete ihn. Der alte Mann griff weder mit seiner einen Hand nach seiner anderen, noch blinzelte er auffällig oft. Er hielt die Lider halb geschlossen und schien nicht einmal zu bemerken, dass der Jüngere ihn beobachtete.
Sagen Sie, Herr Paintner, haben Sie jemals Raskolnikow gelesen, ich meine den Roman, den von Dostojewski, Schuld und Sühne?
Der Alte sah Korell an, als hätte der in einer fremden Sprache geredet.
Was? Was für ein Roman? Ich lese keine Romane. Ich bin ja keine Frau.
Korell nickte.
Ich frage nur aus Interesse. Raskolnikow begeht einen Doppelmord aus Überzeugung und wird von seinem Gewissen eingeholt. Sein Gewissen ist stärker als die Überzeugung, zu den Morden berechtigt gewesen zu sein! Das ist natürlich Dostojewskis christliche Sentimentalität! Sie hingegen sind ein Mensch, dem ein Doppelmord überhaupt keine Schwierigkeit bereitet, Sie sind völlig einverstanden mit sich selbst, nichts bedrückt Sie, nichts verleitet Sie zu unbedachten Äußerungen, das finde ich, ja, tatsächlich faszinierend!
Auf Freyas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das ihr Bruder nicht deuten konnte. Sie schien zufrieden zu sein. Korell fuhr fort:
Es geht mir nicht um Literatur. Ich möchte von Ihnen wissen, wie man das macht.
Was?
Von Paintners Gesicht schien sich eine Maske zu lösen. Hinter der gespielten Selbstsicherheit wurde Wachsamkeit sichtbar. Er blinzelte ein paar Mal hintereinander und spannte seine Stirn und seine Lippen an.
Korell sah ihn mit unverhohlener Neugier an.
Sie wissen schon, kommen Sie, ich will doch nur lernen!
Der Alte schob den Kopf vor, und man konnte sehen, wie er seinen Nacken versteifte.
Was lernen?
Na das! Wie man ohne jedes bisschen Gewissen mit einem Doppelmord auf der Seele weiterlebt, als wäre nichts gewesen! Ich meine, Raskolnikow, dieser Idiot, kriegt Fieber und Bauchkrämpfe und glaubt, alle Welt weiß, was er getan hat, aber Sie! Sie wissen, dass Ihre Schuld gar keine ist!
Ich habe nichts getan.
Freya nutzte die Pause, die entstand, um mit ihrem Rollstuhl um den Tisch an die Seite ihres Bruders zu fahren.
Gernot, du weißt, sie werden bald herausfinden, dass dieser Leichnam im Fischerhaus ein schwarzer, französischer Soldat war. Und dann dauert es höchstens eine Woche, bis sie wissen, welcher schwarze Gefangene damals aus der Haft geflohen ist.
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