Mein ist der Tod
Richtiges, Unvermeidliches. Das Zittern verging, er zog die Bettdecke weg und begann den Tag, den er unauffällig verbrachte.
Was die Gesellschaft als Verbrechen bezeichnete, war für ihn, wenn er die Aufwachphase hinter sich hatte, nichts als eine Folge einzig möglicher und darum notwendiger Handlungen. Wie sollte er überleben, ohne die Hydra zu besiegen? Er konnte nicht erwarten, dass man ihn verstand. Niemand außer ihm würde begreifen, dass die Ermordung immer derselben Frau nur mit seiner Gewissheit zu tun hatte, durch ihren Lebensverlust selbst Leben gewinnen zu können. Er rettete die Gesellschaft davor, von der Hölle verschlungen zu werden.
Er prüfte schonungslos seine Motive. Er wusste, dass er seinen Zeitgenossen haushoch überlegen war, und dass die bürgerlichen Gesetze, die moralischen und sittlichen Gebote für ihn nicht galten.
Sein Verfahren war unbestechlich: Er hatte sich in den Täter und seinen Richter aufgespalten, und er war intelligent genug, um dem einen sein Geständnis zu entlocken und den anderen, nach kurzer, mitleidloser Erörterung der einzig möglichen Strafe, zum Freispruch zu bewegen. Meist stand am Ende der Prüfung eine hohe Auszeichnung als Retter der Menschheit vor der Lernäischen Schlange.
Die Rotmilane schliefen. Die friedliche Nachtstille, die das Haus umgab, seit die Schreie der Vögel verstummt waren, erfüllte ihn mit innerer Ruhe, er empfand eine helle Daseinsfreude und spürte, wie in ihm die Kraft für den nächsten Mord wuchs, wenn er nötig werden sollte. Doch zunächst musste er die Ermittler auf die Spur von Iris Paintners Leiche setzen, damit sie endlich beerdigt oder eingeäschert werden konnte.
Die leuchtende Hälfte des Mondes sandte genug Licht durch das Dachglas, um die Konturen der Gegenstände im dunklen Raum sichtbar werden zu lassen. Das Rudergerät, mit dem der Täter seine Muskeln bildete, glänzte wie in stummer Erwartung. Er las auf dem Bildschirm Dantes Verse 73–75 aus dem Fünften Gesang der Hölle: … io venni men cosí com’ io morisse.
Als ob ich stürbe, sagte er leise vor sich hin und hörte dem altertümlichen Klang nach. Morisse …
Für das dritte Level von Mein ist der Tod wollte er es den Verfolgern weniger schwer als beim zweiten machen, für das man auf den Sänger Bertran de Born kommen musste. Er wählte die Geschichte der Ehebrecherin Francesca da Rimini und ihres Geliebten Paolo Malatesta, deren Liebesklage in der Hölle Dante derart ergriff, dass er die Besinnung verlor und wie tot niedersank: cosí com’ io morisse …
Und während dieser Geist mir das gestanden,
Der andre weinend mir das Herz zerrissen,
Fühlt ich todgleich, wie mir die Sinne schwanden.
Todgleich , der Täter las im Internet diese Übersetzung von Dantes morisse und fand, dass sie glänzend zum Versteckspiel mit der Leiche passte. War Iris Paintners Körper, den er aus rein praktischen Erwägungen zerstört hatte, nicht ebenso schön gewesen wie der von Francesca da Rimini, die mit ihrem Geliebten wegen Gattenmordes ins ewige Feuer verbannt war?
Iris’ Leiche, die er in Torso, Arme und Beine aufgeteilt, jeweils in moosgrüne Teichfolie verpackt und mit Paketklebeband versiegelt hatte, musste allmählich gefunden werden. Wenn der Täter etwas hasste, dann war es der Geruch der Verwesung. Die Tote sollte endlich unter der Erde oder im Feuer eines Einäscherungsofens verschwinden.
Er öffnete die Strecke seiner gespeicherten Videos und kopierte die Sequenz heraus, die er einige Nächte zuvor digital montiert hatte: Die dunkelgrünen Pakete lagen in einem Boot nebeneinander. Hier gab es kein Schilf und keine Bäume wie um den Kahn mit Saskia Runges Schädel, hier sah man nur die trockene, runde Mauer des Fischerbrunnens vom Heiseplatz in der Zungerer Neustadt. Der biedere Entwurf eines ansässigen Bildhauers stammte aus den Siebzigerjahren und war ein allseits zustimmungsfähiges Werk. In der großen Beckenschale erhob sich eine stilisierte Welle aus Sandstein und ging in einen Kahn über, dessen Inneres man von der Rückseite des Brunnens her einsehen konnte, wo fünf Bankreihen terrassenförmig zum Oberglan mit seinen Läden anstiegen.
Die Website der Stadt enthielt einige Brunnenfotos, darunter eines, auf dem man das hohle Innere des Bootes vor seiner Flutung mit Wasser sah. Ende November wurde es trockengelegt und mit hölzernen Paneelen abgedeckt, Mitte Mai wieder geöffnet.
Der Täter bearbeitete die Videoschleife und programmierte sie
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