Mein Ist Die Nacht
Stimme über die Schulter. »Eine
Frau.« Das Scherzen war ihm beim Anblick der
geschändeten und unbekleideten Frau vergangen. Sie lag
benommen auf dem abgewetzten Sofa und blinzelte ihm verstört
entgegen. Sie ächzte nur.
Sie war auffallend
blass. Als sie den fremden Mann im Zimmer erblickte, weiteten sich
ihre Augen. Sie griff nach einer Decke und verdeckte ihre
Blöße so gut es ging.
»Sind Sie in
Ordnung?« Micha durchquerte den vier mal fünf Meter
großen spartanisch eingerichteten Raum und beugte sich
über die Frau, die ihn wie ein Ungeheuer ansah.
»Sie müssen
keine Angst haben, wir sind von der Polizei«, sagte er sanft
und beobachtete, wie sich der Herzschlag der jungen Frau langsam
beruhigte. Erst jetzt bemerkte er die blutende Wunde an ihrem Hals.
»Das muss sich ein Arzt ansehen.«
Franka, die hinter ihn
getreten war, zog bereits das Telefon aus der Tasche und rief einen
Notarzt.
»Er … er
hat mich …« Die Stimme der Frau war nichts als ein
Hauch. Ihre Augen glänzten fiebrig.
»Können Sie
sich erinnern?«, fragte Micha.
Kopfschütteln.
»Kaum, nur ganz dunkel. Es war, als hätte ich
geträumt.«
»Man wird sich
gleich um Sie kümmern, Frau …«
»Rebecca, ich
bin Rebecca. Wo ist Clay? Was hat er mit mir
gemacht?«
»Wir suchen ihn,
denn er ist ein blutrünstiger Mörder.« Micha
schüttelte mit ernster Miene den Kopf. »Aber Sie
können uns vielleicht sagen, wann er die Wohnung verlassen
hat?«
»Gerade eben
erst. Ich bin aufgewacht, da habe ich gesehen, wie er abgehauen
ist. Einfach so. Er hatte es eilig. Dabei wollte er mir doch
helfen. Mich verstehen. Mich retten.«
»Der rettet
niemanden. Er hat uns wohl kommen sehen und ist abgehauen.«
Micha erhob sich und lächelte die Frau aufmunternd
an.
»Wir werden ihn
kriegen, und er wird Sie in Ruhe lassen, das kann ich Ihnen
versprechen.«
Rebecca nickte stumm,
doch ihr Gesicht glich einer starren Maske. Die Augen waren leer,
ihre Haut blass, nur die Wunde am Hals blutete noch ein
wenig.
»Er hat mich
… gebissen«, murmelte Rebecca und befühlte die
Wunde. »Er ist ein Vampir.«
»Oder sowas in
der Art.« Micha nickte. Dass die Frau unter Schock stand, war
offensichtlich. Aber er wurde den Verdacht nicht los, dass sie auch
unter dem Einfluss eines Betäubungsmittels stand. »Hat
er Ihnen etwas gegeben? Haben Sie hier etwas gegessen oder
getrunken?« Als er sich im Raum umblickte, konnte er sich die
Antwort selber geben. Auf dem Tisch standen zwei Gläser, eines
leer, das andere noch halbvoll mit Cola.
»Die
Cola«, stammelte Rebecca leise. »Er muss mir was in die
Cola getan haben.« Sie richtete sich mühsam auf und
schlang sich die Wolldecke über den Körper. Als sie an
sich herunter blickte, schien die Erinnerung tropfenweise in ihr
Gedächtnis zurückzukehren. Ihr wurde die körperliche
und die seelische Demütigung, die sie von Kai Kötter
erfahren hatte, langsam bewusst. Im benebelten Kopf hatte sie ein
schreckliches Martyrium erlebt.
Sie begann zu weinen
und schluchzte darauf los. Sie fühlte sich
zerstört.
Franka näherte
sich der völlig verängstigten Frau und redete beruhigend
auf sie ein. »Es ist Hilfe für Sie unterwegs. Jemand
wird sich Ihre Wunde ansehen und sich um Sie kümmern. Es ist
vorbei, und Sie müssen keine Angst mehr
haben.«
Rebecca blickte Franka
aus tränenverschleierten Augen an.
Micha hatte sich
erhoben und war an das Fenster getreten, um die Gardinen zu
öffnen. Das in der Wohnung herrschende Zwielicht machte ihn
wahnsinnig. Als er die schwarzen Vorhänge öffnete, warf
er einen Blick auf die Straße. Als dort unten ein Motor
aufheulte, gestikulierte er wild.
»Das Schwein
haut ab!«, gellte seine Stimme durch die Wohnung. Im gleichen
Augenblick zückte er sein Handy und wählte die Nummer von
Willi Bever. Der Erste Kriminalhauptkommissar leitete sofort eine
Fahndung nach dem Sprinter ein. Nun war es eine Frage der Zeit, bis
Kai Kötter, der als Dark Lord und als Clay eine Woche lang
Angst und Schrecken verbreitet hatte, festgenommen werden
würde.
76
14.10
Uhr
Wohin, wohin, wohin?,
hämmerte es in seinem Schädel. Zunächst einmal
musste er den Bullen entkommen, die sich jetzt scheinbar in seiner
Wohnung aufhielten. Sie hatten Rebecca mit allergrößter
Wahrscheinlichkeit gefunden und kümmerten sich um sie. Er warf
einen flüchtigen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett. Wenn er
die K.O.-Tropfen richtig dosiert hatte, dann erwachte sie jetzt
gerade wieder.
Der Sprinter
schlidderte
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