Mein Ist Die Nacht
Bleigürtel, der sich um ihre Brust legte. Eine
nicht zu bestimmende Furcht streckte die kalten Krallen nach ihr
aus.
Lena Hille blieb
stehen und wandte den Kopf nach links. An dieser Stelle gab es
einen kleinen, mit Büschen bewachsenen Grünstreifen, der
Fahrbahn und Bürgersteig voneinander trennte. Sie hatte etwas
gesehen. Als sie den Blick senkte, erstarrte sie. Sie blickte auf
eine leblose Gestalt, die dort auf dem schmalen Grünstreifen
lag.
Im ersten Augenblick
dachte sie an eine Schaufensterpuppe, die hier jemand abgelegt
hatte. Ungelenk standen die Gliedmaßen der Gestalt vom
unbekleideten Torso ab. Die vermeintliche Puppe wirkte lebensecht.
Die Haut war kein Kunststoff, die Augen, die klagend zu ihr
aufblickten, waren keine Glasaugen. Dennoch war der Blick der zu
Lebzeiten wunderschönen Augen gebrochen.
Bei der Person
handelte es sich um eine Frau, daran bestand kein Zweifel. Sie war
unbekleidet, bis auf schwarze Strümpfe und kniehohe Stiefel
mit spitzen Absätzen.
Lena Hille stockte der
Atem beim Anblick der regungslosen Gestalt.
Sie dachte sofort
daran, dass die Frau dem ältesten Gewerbe der Welt
angehören musste. Insgeheim hoffte sie inständig, dass
ihr die Phantasie wieder einen Streich spielte und dass zu ihren
Füßen doch eine lebensgroße, verdammt echt
aussehende Puppe lag. Doch dafür war sie zu perfekt. Trotz
ihrer Lage und den anklagenden Blicken war sie bildschön. So
schön konnte keine Puppe sein, dachte sie in Panik und wandte
sich um. Weit und breit war kein Mensch zu sehen, und es kam ihr
vor, als würde sie sich auf einem fremden und bizarren
Planeten befinden. Einer Parallelwelt, die ihrer Heimatstadt sehr
glich. Doch es schien nur sie zu geben. War sie die Letzte einer
aussterbenden Spezies?
Sie drehte sich wieder
zu der Frau. Kein Laut kam über ihre durch die Winterluft
spröde gewordenen Lippen. Sie beugte sich zu der leblosen
Gestalt herab, wagte aber nicht, sie zu berühren.
Schlief
sie?
Wenn, dann war sie
vermutlich längst erfroren.
»Mein
Gott«, entfuhr es ihr. Viel hatte sie schon mitgemacht in
ihrem Leben, viel hatte sie erlebt und gesehen. Vorsichtig
stieß sie die Frau mit der Schuhspitze an. Nichts
geschah.
Lena Hille ging neben
der fast unbekleideten Person in die Knie. Sie sank in den
Schneematsch ohne zu spüren, dass die Knie ihrer Hose sofort
durchnässt waren. Erst jetzt sah sie die tiefe, klaffende
Wunde am Hals der Unbekannten. Man hatte die Frau ermordet.
Bestialisch.
Ihr Oberkörper
war voller Blut. Lena Hille, die einsame alte Arbeiterin,
spürte, wie Übelkeit in ihr aufstieg.
»Mein Gott, mein
Gott, mein Gott«, rief sie immer wieder, sprang auf und
presste die Hände vors Gesicht. »Wer tut sowas?«
Von Panik erfüllt blickte sie an den Fassaden der umliegenden
Häuser hoch. Niemand stand am Fenster und gaffte. Es war, als
hätte sich die Welt gegen sie verschworen.
Auf der Straße
näherte sich ein Taxi. Sie sprang auf die Fahrbahn und winkte
mit beiden Armen. Der Fahrer witterte ein Geschäft und stoppte
den Wagen. Schlingernd kam der tuckernde Mercedes auf der
matschigen Fahrbahn zum Stehen.
Lena Hille schlug mit
der flachen Hand auf die warme Motorhaube und umrundete den Wagen.
»Schnell«, rief sie im Laufen. »Kommen
Sie!«
Der Fahrer ließ
die Seitenscheibe herunter. Er grinste freundlich. »N'abend
junge Frau. Ziemlich kalt. Wo darf's hingehen?«
»Polizei«,
stammelte Lena Hille. »Bitte rufen Sie die Polizei. Hier
liegt eine tote Frau! Alles ist voller Blut!«
Lena Hille riss die
Fahrertür auf und berichtete dem Fahrer von ihrem grausigen
Fund. Der schaltete die Warnblinkanlage ein und löste den
Sicherheitsgurt.
»Jetzt kommen
Sie schon!« Lena Hille zog ihn am Kragen seiner Jacke ins
Freie. »Da liegt eine Tote! Rufen Sie die Polizei, verdammt
noch mal!«
Der Taxifahrer
ließ vor Schreck die Kupplung kommen und würgte prompt
den Motor ab. Ohne weitere Fragen griff er nach seinem Handy und
wählte den Notruf.
8
21.05
Uhr
Das Klingeln des
Telefons weckte sie.
Die Hoffnung, dass der
Klingelton aus dem noch laufenden Fernseher kam, vor dem sie mal
wieder eingeschlafen war, bewahrheitete sich leider nicht. Dennoch
dauerte es einen Augenblick, bis sie in der Wirklichkeit ankam und
erwachte.
Franka Hahne schlug
die Wolldecke, in die sie sich gehüllt hatte, zur Seite und
richtete sich schlaftrunken auf. Die junge Kommissarin war mal
wieder, wie so oft in letzter Zeit, vor dem Fernseher
eingeschlafen. Der Job bei der
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