Mein ist die Stunde der Nacht
aber es spielt eigentlich keine Rolle.« Craig Michaelsons Stimme klang freundlich. »Ich kann verstehen, wie Ihnen zumute ist. Ich werde Sie also morgen Abend um sieben Uhr am Hotel abholen.«
»Morgen Abend um sieben«, wiederholte Jean. Sie unterbrach die Verbindung und stand einen Augenblick lang vollkommen regungslos da. Dann strich sie sich mit dem Handrücken die Tränen aus ihrem Gesicht. Meredith, Meredith, Meredith , dachte sie.
»Sieht so aus, als ob Sie eine gute Nachricht bekommen hätten«, brummte Duke erwartungsvoll.
»Ja, das habe ich. O Gott, ja, das habe ich wirklich.« Jean sammelte ihr Wechselgeld ein, ließ einen Dollar auf der Theke zurück und verließ den Raum wie in Trance.
Duke Mackenzie starrte Jean mit einem forschenden Blick nach. Sie sah ziemlich bedröppelt aus, als sie reinkam, dachte er, aber so, wie sie nach dem Anruf wirkte, hätte man denken
können, sie habe gerade im Lotto gewonnen. Was zum Kuckuck hat sie wohl gemeint, als sie gefragt hat, wie ihre Tochter heißt?
Er sah vom Fenster aus zu, wie Jean die Mountain Road hinaufging. Wenn sie nicht gleich weggerannt wäre, hätte er sie noch fragen können, was es mit diesem Kerl mit der dunklen Sonnenbrille und der Mütze auf sich hatte, der in den letzten Tagen jeden Morgen gekommen war, gleich nachdem sie geöffnet hatten, um sechs Uhr. Er bestellte immer dasselbe – Saft, ein Brötchen mit Butter und Kaffee zum Mitnehmen. Dann stieg er in sein Auto und fuhr die Mountain Road hoch. Gestern Abend war er auch gekommen, kurz bevor sie schließen wollten, und hatte ein Sandwich und einen Kaffee bestellt.
Dieser Typ ist nicht ganz astrein, dachte Duke, während er die bereits makellose Theke nachpolierte. Ich frage ihn, ob er auch an dem Klassentreffen von Stonecroft teilnimmt, und er gibt mir so ’ne blöde Klugscheißer-Antwort: »Ich bin das Klassentreffen.«
Duke ließ heißes Wasser über den Schwamm laufen und drückte ihn aus. Vielleicht sollte Sue ihn morgen bedienen, falls er wieder kommt, und ich setz mich ins Auto, warte auf ihn und folge ihm, um mal zu gucken, wohin er eigentlich immer fährt in der Mountain Road. Vielleicht zu Margaret Mills? Sie ist jetzt seit ein paar Jahren geschieden, und jeder weiß, dass sie auf der Suche nach einem Freund ist. Kann nicht schaden, das herauszufinden.
Duke schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. ’ne ganze Menge los hier, seit diese Leute vom Klassentreffen letzte Woche aufgetaucht sind, dachte er. Falls dieser komische Typ heute Abend wieder kommt, um sein Sandwich und seinen Kaffee zu holen, frage ich ihn nach dem Mädel, das gerade hier war. Ich meine, sie ist vom Klassentreffen und sie sieht richtig gut aus, also wird er wenigstens wissen, wer sie ist. Ist doch zu bekloppt, dass sie sich hat erzählen lassen, wie ihre
eigene Tochter heißt. Vielleicht weiß der ja, was mit ihr los ist.
Duke kicherte in sich hinein und leerte seine Tasse. Sue nervte ihn immer mit der Bemerkung, dass zu viel Neugier ungesund sei. Ich bin gar nicht neugierig, dachte Duke. Ich weiß einfach nur gern, was hier und da so los ist.
68
UM ZWÖLF UHR KLOPFTE Sam Deegan an die Tür zum Büro des Bezirksstaatsanwalts und trat ein, ohne auf eine entsprechende Aufforderung zu warten.
Rich Stevens saß über Unterlagen auf seinem Schreibtisch gebeugt und blickte auf, verärgert über die plötzliche Unterbrechung.
»Rich, tut mir leid, dass ich so hereinplatze, aber es ist wichtig«, sagte Sam. »Wir machen einen großen Fehler, wenn wir die Drohungen gegen Jean Sheridans Tochter nicht ernst nehmen. Auf meinem Band war eine Nachricht, dass ich Craig Michaelson anrufen soll, den Anwalt, der die Adoption durchgeführt hat. Wir haben gerade miteinander telefoniert. Michaelson hat sich mit den Adoptiveltern in Verbindung gesetzt. Der Vater ist ein Drei-Sterne-General im Pentagon. Das Mädchen ist im zweiten Jahr Kadettin in West Point. Der General hat sie angerufen und gefragt, ob sie je mit Laura Wilcox zusammengetroffen sei. Sie hat das sehr bestimmt verneint. Und sie kann sich nicht erinnern, wo sie die Haarbürste verloren hat.«
In Rich Stevens’ Miene war keine Spur von Ärger mehr, als er sich zurücklehnte und die Hände verschränkte – für alle, die ihn kannten, ein Zeichen, dass ihm etwas größere Sorge bereitete. »Das hat uns gerade noch gefehlt«, sagte er. »Die Tochter eines Drei-Sterne-Generals wird von irgendeinem
Irren bedroht. Haben sie in West Point einen Leibwächter für
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